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Frankreich: Die europäische mainstream-Krise wird politisch akut

Wenn ich die Wahl nicht gewinne, gibt es Bürgerkrieg – sagt neuerdings Macron. Diese Drohung stellt eine neue Qualität bürokratisch-bürgerlicher mainstream-Politik dar. Bisher hat die breite – aber eben immer weniger breite – neoliberale Mitte darauf geachtet, die Legalität zu wahren. Von Legitimität ist nicht die Rede. Nun droht eine ihrer europäischen Hauptstützen, wie schon „drüben“ Trump, mit dem Bürgerkrieg. Sicher, man könnte sagen: Der in seiner Intelligenz reichlich beschränkte aber umso brutalere Macron ist in Panik geraten. Aber wir sollten die übergreifenden Tendenzen erkennen.

Ein Blick auf die Lage Frankreichs und seine längerfristige Entwicklung kann uns Einiges verraten. Es war die französische Regierung, welche 1949 / 50 und später zuerst die Montanunion (EGKS) und dann die EWG gepusht hat. Die Pariser Eliten glaubten, sie könnten die “deutsche Tüchtigkeit“, also die deutsche Industrie und Wirtschaft, vor ihren Karren spannen. Damit wollten sie dann Europa beherrschen. Es ist bekanntlich anders gekommen. Nachdem die deutschen Großkapitalisten auf diese Weise aus ihrer Verquickung mit den Nazis rehabilitiert worden waren, nahmen sie resolut, aber erst noch diskret das Heft in die Hand. Politisch blieben sie tatsächlich im Hintergrund („Deutsche Westbindung“). Die Pariser Politiker aber glaubten in einer Kombination nationalisti­schen Großmachtwahns und gleichzeitig der eitlen Selbstüberschätzung der Hauptstadt-Politiker an ihre Macht. Den Präsidenten der EWG-Kommission überließen sie 1958 mit Hallstein einem, wie sie dachten, biederen deutschen Beamten. Von der Macht einer zentralen Bürokratie schienen diese Zöglinge der ENA, der Bürokraten-Schule, keine Ahnung zu haben.

Spätestens seit Ende der 1960er versuchten die französischen Eliten ständig fast verzweifelt das deutsche Model zu imitieren. Aber die französischen Arbeiter waren damals nicht so handzahm wie die deutschen Gewerkschaften. So begannen die Politiker, nach einem stärkeren Disziplinierungs-Mittel zu suchen. Der alt- und neoliberale Giscard d’Estaing entwickelte mit Helmut Schmidt die Währungsunion, und der Sozialdemokrat Delors fixierte sie.

Als die Sowjetunion von ihren eigenen bürokratischen Eliten zerschlagen wurde, kam die große Gelegenheit.

 

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Datenquelle: Eurostat, Worldbank

 

Die DDR schloss sich an die BRD an. Da beschloss Mitterrand, den politischen Hebel zu nutzen. Er zwang die Deutschen zu ihrem Glück. Er setzte die Währungsunion gegen ihr Zögern durch. Er dachte die Deutschen zu dominieren. Wie schon vier Jahrzehnte vorher, kam es anders herum. Ökonomisch war dies übrigens durchaus das Ziel: Die Währungsunion sollte bekanntlich über die „Innere Abwertung“ funktionieren, d. h. durch das Senken des Lebensstandards der Arbeitenden. 

Aber das hat nicht ganz geklappt. Zwar überall wuchs in der Tendenz die Ungleichheit. Piketty hat dies bestens belegt. Aber noch gibt es Wahlen, und die politische Klasse will ihre Positionen halten. Kurz: Sie versuchten auf Pump zu leben und leben zu lassen. Eine (Finanz-) Krise nach der anderen folgte. Und nicht überall konnte man so brutal vorgehen, wie in Griechenland. Aber auch Italien und Frankreich rutschten ab. Die Entwicklung in Frankreich, wie sie die BIP-Wachstumskurven abbilden, ist nicht ganz so katastrophal wie in Italien. Aber die Stagnation seit 2008 ist überdeutlich. Ein Erfolg sieht anders aus.

Das gab politische Folgen. Die französische Sozialdemokratie, der PS, ging fast zugrunde. Doch eine neue Linke gab es nicht, zumindest vorerst. Dafür reüssierte die populistische Rechte. Und da spielten dann wieder die alten traditionalistischen Reflexe. Als langsam tatsächlich wieder eine neue Linke entstand, nämlich Melenchons LFI, stellte sich diese jeweils brav hinter die herrschenden Neoliberalen, wenn es darauf ankam, bei den Präsidentenwahlen. Man wollte die Rechten verhindern und brachte so Macron an die Macht. Das nennt man den Teufel mit Belzebub austreiben.

Marine Le Pen hat daraus gelernt. Sie hat das Modell Meloni vor Augen. Das will sie nun in Frankreich wiederholen, und sie hat, jedenfalls nach den derzeitigen Umfragen, gute Chancen. Dazu hat sie sich auch die höheren Weihen geben lassen. Das Ehepaar Klarsfeld hat sie vom Makel des Antisemitismus freigesprochen. Damit, so die Klarsfeld, ist sie auch nicht mehr „rechtsextrem“: „Ich habe kein Problem mehr mit [Marine Le Pen]. Sie unterstützt Israel und den Kampf gegen Antisemitismus. …Die rechtsextremen Parteien [sind] philosemitisch geworden, … projüdisch und proisraelisch… Ich kämpfe für meine eigene Sache. … Sobald eine Partei nicht mehr antisemitisch ist, ist sie für mich auch nicht mehr rechtsextrem” (taz, 24. Juni 2024).

Das ist in seiner offenen Verhöhnung jeder politischen Logik wichtig. Die beiden alten Klarsfeld sind vielleicht nicht mehr ganz so „klar“ in ihrer Monomanie. Doch sie sprechen in ihrer Fixierung offen das aus, was seit Jahrzehnten Konsens im linksliberalen Hauptstrom ist. Und anders denkt auch „Le Point“ nicht, der französische „Spiegel“. Der bekommt sofort Schaum vor den Mund, wenn er von Palästina handelt und er ein kritisches Wort dazu findet. Doch ist es bei uns anders? Vor rund zwei Jahrzehnten gab es in Österreich eine Debatte über Karl Renner. 1938 hatte er sich ohne die geringste persönliche Notwendigkeit den Nazis an den Hals geworfen und ihren Überfall auf die Tschechoslowakei gerechtfertigt. Raimund Löw, der sich damals noch links spreizte, hat den Text veröffentlicht. Aber: Kein Problem hieß es, er war ja kein Antisemit. Und noch heute heißt das Indoktrinierungs-Institut der SPÖ Karl Renner-Institut.

Madame Le Pen steht inzwischen auf fast allen Positionen Macrons. Aber nicht deswegen wird sie von der gesamten Linken zum Gottseibeiuns gemacht, mehr noch als Macron. Und damit kommen wir zum zweiten und zentralen politischen Problem.

Nicht nur in Frankreich wird jener Teil des mainstreams allgemein als „Linke“ bezeichnet, der nicht aus der Parteien-Tradition der alten Rechten kommt. Auf die inhaltlichen Positionen und ihren Klassen-Charakter kommt es dabei überhaupt nicht an. Hier zeigt es sich, wiesehr Sarah Wagen­knecht Recht hat: „Links“ ist heute für einen Großteil der Bevölkerung ein politischer Begriff, der das bezeichnet, was für die Identität und die Interessen der Oberen Mittelschichten und gegen die Unten steht. Gerade als Menschen aus der linken Tradition kann man den Begriff „links“ heute kaum mehr politisch verwenden. Man wird damit grob missverstanden.

Aber die politischen Zwänge dieser Terminologie und der Tradition sind offenbar überstark. Diese Art der Linken, eingeschlossen die neue Linke von LFI, hat sich auf eine „Neue Volksfront“ ge­einigt – und dabei nahezu alle linken Positionen aufgegeben. Melenchon hat sich willig unterwor­fen. Nur so nebenbei hat er damit auch die Sozialdemokratie gerettet. Auch hier haben wir eine Parallele mit Italien. Wir haben gesehen, dass der dortige PD bei den Wahlen zum „Europäischen (Pseudo-) Parlament“ erfolgreicher war als die ganzen letzten Jahre. Dafür sind die „linkspopulisti­schen“ (?) Fünf Sterne beinahe krachen gegangen. Eine ähnliche Situation deutet sich in Frankreich wieder an. Die Linke begeht Selbstmord und rettet damit die französische Sozialdemokratie, die in einem neuen kurzfristigen Aufstieg ist. 

Die französischen Links-Intellektuellen sind auf ihre Art kennzeichnend. Sie sind nicht selten ein wirklich abschreckendes Beispiel dieser Menschen-Kategorie. Durch Zufall kommt mir ein Büchlein von Régis Debray in die Hände. Er war vor zwei Generationen großer Bewunderer von Che Guevara und Fidel Castro. Hier schreibt er über ein gegenwärtig höchst aktuelles und wichtiges Thema: über Grenzen. „Lob der Grenzen“ (Éloge des frontières) nennt er seine Schrift. Man beginnt also mit großem Interesse zu lesen. Binnen Kurzem ist man dessen überdrüssig. Es kommt ihm offenbar nicht auf das Thema an. Er schlägt stilistische Pfauenräder vor seinen confrères, den anderen Links-Intellektuellen. 

Ein Vergleich mit einem gleichaltrigen Kollegen aus Italien sagt Einiges. Luciano Camfora war einmal Funktionär der KPI. Heute hat der Professor für antike Sprachen und Geschichte auf der Linken wieder viel Aufmerksamkeit. Man kann und wird ihm gegenüber sehr kritisch sein. Aber man wird ihm kaum vorwerfen, nur für einen selbstverliebten intellektuellen Klüngel zu sprechen und zu schreiben. 

Das hängt wieder mit der Struktur zusammen. Die Île de France und speziell Paris sind ein soziales und politisches Zentrum und der Rest gleichförmige Peripherie, wie wir es in Italien mit seiner schreienden Ungleichheit zwischen Norden und Süden nicht finden. Pariser Intellektuelle sehen mit Verachtung auf den Rest des Landes herab.

Frankreich – nein: Paris – sieht sich als Muster für West-Europa. Als der junge Marx seine große Wende vom liberalen Intellektuellen zum sozialistischen Theoretiker und Aktivisten machte, blickte er stets auf Frankreich. Es war ihm eine Gegenfolie zum damaligen Deutschland. Heute schauen viele Franzosen gebannt auf Deutschland und merken gar nicht: Dieses heutige Deutsch­land zerstört gerade sein eigenes (kapitalistisches) Entwicklungs-Modell, weil es völlig servil gegenüber den USA ist. Da mag mitspielen, dass Blackrock heute vermutlich der größte Kapital-Eigentümer in Deutschland ist – sehr klar ist dies nicht erkenntlich, wie immer bei Eigentums-Verhältnissen. Aber es herrscht auch eine völlige intellektuelle Abhängigkeit vom Großen Bruder. Die hegemonialen Schichten in Frankreich vollziehen dies nach, bilden sich aber gleichzeitig ein, sie gäben die Richtung vor.

Wie überall, ist auch die französische Linke dabei, sich selbst aufzugeben. 

Vielleicht ist dies unvermeidlich. Das, was einmal die weltgeschichtlich entscheidende Befreiungs-Bewegung war, verkommt in den westlichen Zentren für alle erkennbar zur Klassenposition der Oberen Mittelschichten. Es drängt sich ein Vergleich auf: Mitte des 19. Jahrhunderts oder ein bisschen früher war der Liberalismus ans Ende seiner Rolle als Ideologie und Bewegung der Befreiung gekommen. Es waren vor allem Marx und Engels, welche intellektuell und politisch die konsequenten Schlussfolgerungen zogen. Es scheint, als seien wir auf einen ähnlichen Punkt zurückgeworfen. Oder vielmehr: Wir müssen weitergehen. Die Krise des Zentrums ist auch zur Krise der Linken, der alten und der neuen Linken geworden. Kann es einen Befreiungsschlag geben? Wie könnte der aussehen?