Linker Volksbegriff
Durch die Hinrichtung des Königs (Louis Capet 1754–1793) im Zuge der französischen Revolution, fand ein grundlegender Bruch mit der absolutistischen Staatstheorie statt. Die (oft religiös mystifizierte) Vorstellung, das Recht würde von der Person des Königs ausgehen wurde auf sehr anschauliche weise widerlegt. Fundamentale Kritik an der dynastischen Herrschaft an sich gab es jedoch lange vor der französischen Aufklärung. Bereits im Mai 1525 wurde in Nürnberg eine anonyme Flugschrift gedruckt die den Päpsten, Kaisern oder Königen Vorwarf sie sein falsch und der meisten Ämter unwürdig. Sie würden meinen ihrer menschlichen Art nach etwas besseres zu sein und so tun als ob ihnen die Herrschaft und Gewalt andere Leute zu regieren angeboren sei. Die weltliche Herrschaft müsste sich hingegen als „schaffer und amtleute Gottes“ verstehen und sein daher der Gemeinnützigkeit und Nächstenliebe verpflichtet. Würden die Herren Amtsinhaber verantwortungsvoll regieren, so würde sich die Volksmasse auch nicht empören und Aufstände machen.[1]
Der auf Jean Bodin (1529-1596) zurückgehende Absolutismus stellte nur eine von mehreren Souveränitätslehre dar. Ein anderer Staatstheoretiker der Frühen Neuzeit, Johannes Althusius (1563-1638) ging von der Souveränität des Gemeinwesens bzw. Volkes aus. Der „oberste Magistrat“, gleich ob er sich monarchistisch oder demokratisch legitimiert, erhielt seine Autorität in jedem Fall von der aus mehreren Gliedern bestehenden, „universalen Gemeinschaft“ (Gesellschaft). „Als Verwalter, Statthalter und Lenker der Rechte der Souveränität erkenne ich den Herrscher an. Als Eigentümer und Nutznießer der Souveränität aber keinen anderen als das gesamte Volk“.[2]
Wer ist denn nun aber dieses Volk das selbstbestimmte Entscheidungen treffen soll? Auf Latein gibt es dafür zwei grundverschiedene Begriffe. Einerseits gens, das entweder eine (aristokratische) Großfamilie oder ein (barbarisches) Volk bezeichnet. Hiervon leitet sich das Adelsgeschlecht bzw. die Gentry (Großgrundbesitzerklasse) ab. Im Gegensatz zur vornehmen Oberschicht sprachen die Römer andererseits vom populus romanus. Das Volk im Sinn des populus bezeichnete also die gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürger. Bedenkt man wie viele Menschen der römischen Republik unterworfen waren handelte es sich dabei jedoch zunächst um eine relativ kleine und exklusive Gruppe.
Mit dem zunehmenden Zerfall des Imperiums, der kriegerischen Verwüstung und dem Abbruch von Handelswege war der urbane römische Lebensstil im heutigen Österreichs aber schlichtweg unmöglich geworden. Insbesondere in Pannonien und am ganzen Balkan entwickelte sich unter der nunmaligen Vorherrschaft der hirtennomadisch geprägten Awaren ein neue ländlich Lebensweise. Der awarischen Herrschaft stand am Anfang des siebenten Jahrhundert eine Vielzahl von kleinen tributpflichtigen slawischen Dörfern gegenüber. Diese Transformation, die seit dem Ende des fünften Jahrhundert begann und schließlich auch das heutige Österreich erfasste bezeichnet der Historiker Walther Pohl, als „stille Revolution“. Die Menschen im heutigen Österreich hörten schlichtweg auf sich an der römischen Ordnung zu orientieren. Die Slawen wurden laut dem römischen Historiker Prokop (500-560) „nicht von einem einzigen Mann regiert, sondern lebten seit alters her in einer demokratischen Ordnung“, das Dorf entschied alles gemeinsam.[3]
Seit dem Frühmittelalter stoßen zwei Grundverschiedene Volksbegriffe auf einander. Mit „den Franken“ oder „Awaren“ beispielsweise waren häufig die diversen Gefolgsleute, die gehorsamen Knechte der Herrschenden gemeint, die ihre Eigenständigkeit gegenüber denen der glorifizierten Kriegshäuptlinge verloren.[4] In den Stammes- oder Volksversammlung hingegen begegneten sich stolze und freie Menschen um einen kollektiven Willen zu fassen.
An diesen zwei unterschiedlichen Konzeptionen von Volk scheiden sich die Souveränitätslehren sowie der traditionelle linke und rechte Volksbegriff nun endgültig. Der Linke Volksbegriff bezieht sich auf jene die beherrscht werden. Jene welche von den Herrschenden unterdrückt und von ihren Gesetzen unmittelbar betroffen sind. Hingegen leiten Rechtskonservative ihren Volksbegriff üblicherweise ohne systematische Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft aus der Tradition eines besonders dominanten Stammes bzw. Adelsgeschlechts her. Die Österreichische Geschichte wird deshalb üblicherweise mit den fränkisch-bairischen Babenbergern oder den Habsburgern begonnen. Somit wird jedoch ein großer Erfolg hinsichtlich Selbstbestimmung und Volkssouveränität aus dem Frühmittelalter vergessen:
Bedrungen durch die awarischen Herrscher Pannoniens und die fränkischen, bairischen und langobadischen Fürsten des Westens waren die auf dem Gebiet des heutigen Ostösterreichs sesshaften Menschen dazu genötigt eigenen Fürsten militärisch-politische Befehlsgewalt zu verleihen. Weil er sich im Kampf gegen die Awaren als nützlich erwiesen hatte wählten verschiedene Stämme (darunter die Mährer und Karantanier) den Kaufmann Samo (600-660), der gute Kontakte zu den Franken pflegte und Waffen liefern konnte, in den 620er Jahren zu ihrem König. Ein Gesandter des fränkischen König Dagobert (603-639) stellte 631 klar, dass dieser von Samo Gefolgschaft verlangte und die Souveränität der Stammeskonföderation offenkundig nicht anerkannte. Laut der Fredegar Chronik antwortete Samo diplomatisch: Er wollte eine freundschaftliche Beziehung auf Augenhöhe zu Dagobert und den Franken. Zwar konnte Samos Stammeskonföderation den Franken in der darauf folgenden Invasion erfolgreich Widerstand leisten, doch sie zerbrach nach seinem Tod um 660.[5]
Österreichs Entstehung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Karantanien im heutigen Südostösterreich blieb jedoch bestehen. Wer die Verantwortung auf sich nehmen wollte Fürst Karantaniens bzw. Kärntens zu werden, musste sich in einfacher Kleidung auf den Fürstenstein (der umgedrehte Sockel einer römischen Säule) setzen und sich rituell von einem Bauern watschen lassen. Doch die Kollaboration mit den bairischen Adeligen und Missionaren war für den Ausbau der fürstlichen Herrschaft praktisch. Die Dorfgemeinden wurden der Herrschaft von privilegierten Adeligen oder der Kirche unterworfen. Bald unterstand fast ganz Ostösterreich der geistlichen Herrschaft der Bischöfe von Passau und Salzburg, welche die Volkskultur bekämpften.
Die habsburgische Herrschaft fügte die verschiedenen österreichischen Länder über die Jahrhunderte zu einem einheitlichen Territorium, mit einheitlichen Behörden, einem Postwesen und einer immer deutlicher werdenden Außengrenze zusammen. Die aus dem Argau in der Schweiz stammenden Habsbruger selbst kamen in Österreich aber ganz gegen das Prinzip der Volkssouveränität an die Macht. Die Stände Österreichs hatten Ottokar II. Přemysl (1232-1278), den Sohn des böhmischen Königs, im Jahr 1251 zu ihrem Fürsten gewählt. Der römisch-deutsche König Rudolf der I. von Habsburg (1218-1291) hingegen weigerte sich, aufgrund eines davon unabhängigen Streits, diese Wahl anzuerkennen und eroberte Österreich.
Das Konflikte letztendlich durch Gewalt entschieden werden und eine Gesellschaft nachhaltig prägen ist und war eine Realität über die sich selbst die radial-pazifistischsten Christinnen und Christen nicht hinwegsetzen können. Die Schleitheimer Artikeln des 16. Jahrhundert bringen es treffender weiße auf den Punkt: „Zum sechsten sind wir vereinigt worden von dem Schwert also.“[6] Die in Gemeinden lebenden und arbeitenden Menschen waren in der Regel einer höheren weltlichen Gewalt unterworfen. Doch der von populus hergeleitete Volksbegriff bezeichnete im 16. Jahrhundert nur mehr die besitzarmen Klassen. Im Gegensatz zur sogenannten „Ehrbarkeit“ (ratsfähige Hausväter) bildeten die hausarmen und landlosen Männer sowie die Frauen (deren Besitz wurde nur eingeschränkt annerkannt) innerhalb der Gemeinde den „Pofel“ später „Pöbel“. Besitzlose Handwerker bzw. Lohnarbeitende wurden marginalisiert und unter Generalverdacht gestellt. Ihre Versammlungs- und Assoziationsfreiheit versuchten die Herrschenden einzuschränken.[7]
Wenn Althusius im 16. Jahrhundert über Volkssouveränität schreibt, bringt er dabei noch relativ ehrlich zum Ausdruck, dass er sich nicht all zu sehr für die Meinung des Volkes interessiert. Er erkennt das Volk und seine Bedürfnisse jedoch als wesentlichen politischen Faktor an. Im Grunde berät er die Magistraten mit welchen bevormundenden Herrschaftstechniken sie die Kontrolle behalten würden: „Das Volk ist drittens vorschnell, furchtsam, sorglos, ohne Urteilskraft und lässt sich nicht durch genaues Unterscheidungsvermögen oder Weisheit leiten, sondern nur durch Ungestüm, Unbesonnenheit, Argwohn oder seine Leidenschaft.“[8]
Die ausgesprochene Verachtung und Bevormundung des Volkes stellt jedoch nicht einfach ein Relikt der Vormoderne dar. Vielmehr ist es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Alexis de Tocqueville) ein fixer Bestandteil der liberalen Staatstheorie wie die Diktatur der Mehrheit oder Pöbelsherrschaft, zu verhindern sei. Die Praxis hierzu zeigt sich in der österreichischen Geschichte. Im März 1848 stellten das Wiener Bürgertum und die Studierenden als erstes und am lautesten ihre Forderungen: eine liberale Verfassung, Pressefreiheit und die Abdankung des Kanzlers Metternich. Doch als sich das Volk der Wiener Vorstädte erhob um sich der Revolte in der Innenstadt anzuschließen und seine eigenen banalen Forderungen nach Brot und Arbeit einzubringen, bewaffneten sich die Liberalen in Bürgermilizen und fielen über den unbewaffneten „Pöbel“ her. Sie riefen laut nach einer viele Gemeinden umspannenden Großdeutschen Nation, doch in der Praxis endete ihre Solidarität gleich an den Stadttoren.[9]
Nationale Vereinigungsbewegungen stellten im 19. Jahrhunderts ein allgemeineres Phänomen dar. Sie zielten auf die Bildung von ökonomisch selbstständigen mittleren und größeren Nationalökonomien ab. Flächenhafte politisch-ökonomische Integrationsprozesse setzten in Europa einschließlich der habsburgischen Herrschaften jedoch bereits im 16. Jahrhundert ein. Anstelle von adeligem Raubrittertum verlangten die Bürger und Bauern eine klare Zollgrenze wo ihr Land aufhörte. In gewissen Bereichen wurde im 16. Jahrhundert bereits erkämpft was die französische Revolution noch deutlicher hervorbrachte: ein vereinheitliches Gesetzbuch sowie klare Maß und Gewichtsnormen. Das Wirtschaftleben im inneren sollte einer klaren und einheitlichen Ordnung folgen. Doch bereits damals kollaborierten der Fürst und die entstehende Kapitalistenklasse. Sie verfolgten eine rücksichtslose merkantilistische Handels- und Außenpolitik.[10]
Die nationalen Einigungsbewegungen, die versuchten die fürstliche Kleinstaaterei zu überwinden um eine geregelte Nationalönomie zu erschaffen sowie ein demokratische Emanzipation der gesamten Nation gegenüber dem Adel zu erkämpfen, werden üblicherweise als links bzw. fortschrittlich gelesen. Das sprachliche und kulturelle Besonderheiten durch die nationale Einigung verloren gingen, wurde von der betroffenen Bevölkerung oft selbstbestimmt in Kauf genommen. Von einer nationalistisch-chauvenistischen Seite allerdings wurde und wird das Verschwinden von bestimmten kulturellen Erscheinungen als zivilisatorischer Fortschritt begrüßt. Durch grausame Assimilationspolitik soll das sogar aktiv erzwungen werden. Sind Nationalstaat und Nationalökonomie einmal etabliert, so verwandelt sich die fortschrittliche Einigungsbewegung all zu leicht in einen imperialistischen Nationalismus. Märkte und Ressourcen werden für die nationale Kapitalistenklasse erobert.[11]
Angesichts dieser imperialistischen Bedrohung, der Unterwerfung der „Bauernvölker“ durch die „Bourgeoisvölker“ wie es im Kommunistischen Manifest heißt, formiert sich notwendigerweise eine antiimperialistische Bewegung. Antikoloniale Befreiungsbewegungen bzw. antifaschistische Bündnisse zur nationalen Befreiung müssen daher ebenfalls als fortschrittliche Kräfte gelten. Das bekannteste Beispiel hierfür: die Chinesische Einheitsfront zwischen Nationalisten und Kommunisten während des zweiten Weltkriegs. Doch auch die russische Revolution, sowie die meisten erfolgreichen sozialistischen Revolutionen, ging gewissermaßen von einem Bauernvolk aus das um seine Selbstbestimmung kämpfte. Der Interessenkonflikt zwischen Stadt und Land bzw. urbanen-industrialisierten Regionen und ländlichen Regionen denen jede Entwicklungsperspektive außerhalb der Rohstofflieferung verwehrt wird, existiert in verschiedensten Abstufungen. Innergesellschaftlich äußert sich der Konflikt seit jeher in der notorisch unsachlichen Form des Kulturkampf. Mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker konnte Vladimir Lenin den Kampf der Unterdrückten in Worte fassen und respektieren. Ob die Lösung im Einzelfall ein zentralistisches, föderalistisches oder konföderalistisches Modell ist, oder es zu einer Revolution oder einer separatistischen Abspaltung kommt, dass ist notwendigerweise Gegenstand von politischen Verhandlungsprozessen zwischen den tatsächlich beteiligten.[12]
Dem gegenüber lehnte Rosa Luxemburg, auf die sich die antinationale Linken heute gerne beruft, die Nation prinzipiell als bürgerliche Ideologie ab. „In der Klassengesellschaft gibt es eine Nation als homogenes gesellschaftspolitisches Ganzes nicht, dagegen bestehen in jeder Nation Klassen mit antagonistischen Interessen und <<Rechten>>.“ Die Nationalitäten Frage sei daher ganz dem Klasseninteresse unterzuordnen bzw. sei die nationale Selbstbestimmung im Kapitalismus prinzipiell als Nebenwiderspruch aufzufassen. In der Praxis vertrat sie daher einen noch radikaleren Zentralismus als Lenin und lehnte die Unabhängigkeit von Polen und der Ukraine gegenüber Russland ab.[13]
Die Österreichische Nation
Für den Kommunisten Alfred Klahr (1904-1944), einem der bedeutendsten Köpfe des organisierten österreischischen Widerstands gegen den deutschen Faschismus, war die österreichische Nation keine Frage von Meinung oder beliebigen Gefühlen. Österreich ist eine historisch gewordene Tatsache. Seine Territoriale Einheit entstand unter den Habsburgern und vervollständigte sich in der Ersten Republik. Es ist zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammengewachsen. Obwohl die österreichische Nationalökonomie verhältnismäßig klein ist erwies sie sich, entgegen allen Behauptungen, durchaus als „lebensfähig“. Mit Ausnahme der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft war Österreich nie Teil der deutschen Nationalökonomie bzw. des territorialen Einheitsstaates gewesen. Erst diese Eigenschaften machten die österreichischen Länder zu einer Nation im eigentlichen Sinn des modernen Begriffes.
Denn wenn z.B. die Gemeinschaft des Wirtschaftslebens oder des Territoriums weg fällt, so kann es nicht mehr jenes enge, gemeinsame Leben und gemeinsame Erleben der Menschen von Generation zu Generation geben, ohne das die Nation weder entstehen noch bestehen kann (Alfred Klahr, Zur nationalen Frage in Oesterreich [I.][14])
Das Zusammenleben stellte schon bei Althusius das zentrale Merkmal einer Gesellschaft dar. Für Althusius bildet die häusliche Gemeinschaft die Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Daraus erwachsen viele verschiedene miteinander lebende Gemeinschaften die sich durch regionale, religiös-kulturelle oder ökonomische Merkmale unterscheiden können. Abhängig von den jeweiligen Bedürfnissen der Gemeinschaften bringt die autonome Gemeinde bzw. Provinz ihre eigene politische Verfassung hervor. Die Habsburgermonarchie setzte sich aus vielen Gemeinschaften und Ländern zusammen, die alle der selben herrschaftlichen Gewalt unterworfen waren.
Diese Monarchisten fürchten, Habsburgs Herrschaft über die Nationen nicht zu erreichen, wenn sie Habsburg als „Vertreter“ eines Volkes, des österreichischen, repräsentieren. Und wir antworten darauf, Habsburg ist allen Nationen gleich fremdt, gleich Feind, es stand als Unterdrücker über allen Nationen, inbegriffen der deutschen Österreicher. Darum „nimmer sei mit Habsburgs Krone Österreichs Geschick vereint“ (Alfred Klahr, Zur nationalen Frage in Oesterreich II.[15])
Volksbefreiung ist Sache des Volkes selbst. Der formale juristische Übergang von der Monarchie zur Volkssouveränität ist nur durch eine Revolution möglich. Das Werktätigevolk hörte 1918 schlichtweg für einen Moment auf sich am Kaiser seinen Ministern und Notverordnungen sowie den Kapitalisten die sie in den imperialistischen Weltkrieg (1914-1918) hineingezogen und gegeneinander aufgehetzt hatten, zu orientieren.
Schon 1919 formierten sich in Italien, Ungarn, Deutschland und auch Österreich protofaschistische Paramilitärs: Offiziersbattalione, Bürger-, Heimwehren und andere Milizen, die vom Finanzkapital und den Großgrundbesitzern bezahlt wurden um das aufständische Volk niederzuschlagen. Diese stellten gegenüber den sozialistischen Wehrverbänden in Österreich zunächst jedoch keine Bedrohung für die Republik dar. Doch obwohl sich die sozialdemokratische Führung selbst zur Verteidigung der Republik verpflichtet hatte rief sie das Volk bei jeder terroristischen Eskalation der Faschisten zurück und forderte es zur Mäßigung auf. Für die nationale Elite Österreichs stellte sich schließlich nur mehr die Frage ob sie das Volk an den deutschen oder den italienischen Faschismus verraten sollte. Während sich die post-habsburgischen Eliten (Aristokratie, Finanzkapital und Kirche) dem italienischen Faschismus annäherten hielt das liberale Bildungsbürgertum am völkischen Deutschnationalismus fest.
Bereits der austrofaschistische Kanzler Engelbert Dollfuß, der im Grunde wenig Unterstützung im Volk hatte und stark am Ausland orientiert war, hatte nie den Mut von einer eigenständigen österreichischen Nation zu sprechen. Sein Nachfolger Kurt Schuschnig schließlich sprach von Österreich als einem „zweiten deutschen Staat“. Um Hitler entgegen zukommen übergab er dem Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart die Position des Innen- und Sicherheitsministers. Als die Nazis darauf im März 1938 in Österreich einmarschierten gab es im Umfeld des Wiener Rathauses (Ernst Karl Winter[16]) Pläne im Bund mit der Arbeiterbewegungen und ihren Untergrundorganisationen (KPÖ, Revolutionären Sozialisten) Widerstand gegen die Nazis zu leisten. Die Pläne wurden mit der Kapitulation der Austrofaschisten verworfen. Ein Zehntel der Wiener Bevölkerung war entweder geflohen oder wurde von den völkisch-deutschnationalen Faschisten alleine aufgrund ihres Geburtsstandes bzw. ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde verfolgt. Doch vor allem der kommunistische und katholische Widerstand dauerten an.
Die österreichische Kultur ist, wie die Kultur jedes kapitalistischen Landes eine Kultur der herrschenden Klasse. […] Wir vertreten das österreichische Proletariat, nehmen für uns in Anspruch, alles das, was es an demokratischen, fortschrittlichen und sozialistischen Traditionen und Elementen in der österreichischen Kultur gibt, nehmen aber auch – denn wir sind Internationalisten – die fortschrittlichen Elemente der anderen nationalen Kulturen und verwenden das als Rüstzeug [...](Alfred Klahr Zur nationalen Frage in Oesterreich II.)
Der von Kapitalisten kontrollierte Staatsapperat, sowie Teile der vorherrschenden Hochkultur, haben demzufolge Klassencharakter. Ihnen gegenüber steht die Zivilgesellschaft einer Nation die dem engen Zusammenleben entsprungen ist und die Volkskultur. Der klassische Rechtskonservativismus verlangte, dass das Volk seine Geseisteshaltung, Konfession, Sprache und Sitten annimmt, sich bedingungslos und Einseitig daran anpasst. Im Faschismus bemühten sich die Herrschenden sehr intensive oberflächliche symbolische Elemente aus der Volkskultur in ihre Vorstellung von ideologischer und kultureller Einheit aufzunehmen. Doch im Grunde ist es durch die fortschreitende Kapitalkonzentration, für die immer kleinere Gruppe an Herrschenden unmöglich geworden ihre Geisteshaltung als rationales Allgemeininteresse darzustellen.
Die Linksliberalen ihrerseits versuchen nun die Kultur der Arbeiterbewegung ebenso wie die etablierte bürgerliche Hochkultur mit all ihren Werten, kulturellen Normen oder sogar Messkonventionen, prinzipiell zu problematisieren oder relativieren. Den historischen und theoretischen Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung versuchen sie durch Identitätspolitik mit linksradikalen Phrasen aufzuheben. Das den Unterdrückten der Gesellschaft dadurch geholfen werden könnte sie (wohlmeinend oder nicht) permanent als Opfer oder Minderheiten zu stigmatisieren und politisch zu instrumentalisieren, ist ausgesprochen fragwürdig. Die Angst vor der Mehrheit, dem „Pöbel“, Populismus und dem Volksbegriff an sich wurde ins unendliche geschürt. Die Unterdrückten sein daher zu ihrem Schutz auf die liberale Staatsgewalt angewiesen. Nach dem us-amerikanischen Historiker Immanuel Wallerstein war der Liberalismus im Grunde bereits im 19. Jahrhundert die Ideologie des starken Staates im Schafspelz des Individualismus.[17] Ideologisch wird die Angst vor subjektiver Diskriminierung in den Vordergrund gestellt. Hingegen beruht das universale Menschenrecht, die Errungenschaft der französischen Revolution, auf der gemeinsamen menschlichen Erfahrung und gegenseitiger Solidarität. Was die kulturelle Einheit betrifft, so werden sich das Volk und die Herrschenden nicht einig. Nicht einmal die Herrschenden untereinander sind sich darüber heute einig.
Volkssouveränität 2.0
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Das Volk muss unterschieden werden vom Staat der Herrschenden einerseits und der Gesellschaft, welche das gesamte System von eingespielten zwischenmenschlichen Verhältnissen beschreibt andererseits. Diese Gesellschaft entsteht unter den Bedingungen der jeweiligen Klassenherrschaft. Das Volk bilden die beherrschten, die große Mehrheit der Bevölkerung welche von den unterdrückerischen Elementen des modernen Staates besonders stark eingeschränkt und in der bestehenden Gesellschaft ausgebeutet werden.
Der klassische Konservativismus des 19. Jahrhundert verortete das Souveränitätsrecht bei den traditionellen Gemeinschaften bzw. Ständen. Der frühbürgerliche Gelehrte Althussius ging in seiner Souveränitätslehre davon aus, das kein Mensch alleine ein gutes Leben führen kann. Ökonomisch weitgehend selbstständige Gemeinden und Provinzen könnten im Kollektiv jedoch einigermaßen selbstbestimmt handeln. Durch die überregionale und globale Arbeitsteilung stehen heute alle Gemeinden in gegenseitiger Abhängigkeit. Die Souveränität verlagert sich daher auf das nationale Kollektiv.[18]
Zwar kennen sich die einzelnen Mitglieder der Nation nicht, dennoch sind sie auf einander angewiesen. Die Nation ist eine historisch gewordene Tatsache. Auf der nationalen Ebene besteht eine Öffentlichkeit welche die Menschen zumindest passiv einbindet. Im Rahmen des Nationalstaats wurden bereits positive demokratische Erfahrungen gemacht und eine republikanische Tradition aufgebaut. Dazu gehört die Organisation zur politischen Willensbildung und die Gemeinden und Länder übergreifende Klassenbildung.
„Volkssouveränität“ darf nicht losgelöst von der jeweiligen Zeit betrachtet werden. Heute ist der klassenneutrale Volkssouveränitätsbegriff von Althusius nicht mehr ausreichend. Die Mehrheit hat andere Probleme, als die relativ geringe Anzahl von Menschen welche den Staatsapperat und die europäische Politik kontrolliert. Die Freiheiten die vom scheinbar neutralen Staat bzw. der europäischen Union von oben herab verliehen werden, haben mit persönlicher Freiheit, dem natürlichen Recht der Selbstbestimmung über den eigenen Körper wenig zu tun. Hingegen nimmt das Recht auf Privateigentum, das individuelle Herrschaftsrecht über Sachen immer abstraktere ideologische Formen an. Staatlich garantiert wird die individuelle Freiheit und Selbstentfaltung der Kapitalisten, die ohne irgendeinen persönlichen Bezug zum Betriebsalltag, über die Produktionsmittel verfügen und Weisungen erteilen können. Ohne jegliche demokratische Legitimation planen Monopol- und Oligopolkapitalisten den Produktionsprozess und bestimmen die Lebensbedingungen des Volkes.
So schränken die Herrschenden in Österreich zwar in manchen Bereichen ihre eigene Souveränität gegenüber anderen, militärisch-ökonomisch dominanten EU-Ländern (für Österreich insbesondere Deutschland) ein. Sie gewinnen aber insgesamt an Handlungsspielraum, wie in Osteuropa und am Balkan, unter Verletzung der nationalen Souveränität dieser Länder, deren Arbeitskräfte und Ressourcen ausgebeutet werden. Zwischen den nationalen und den europäischen Insitutionen werden die Zuständigkeiten immer unklarer. Wie der ehemalige Kommissionspräsident der EU, Jean-Claude Juncker klar sagte, gibt es keine demokratische Wahl gegen die EU-Verträge. Gleichzeitig wird die Volksouveränität auf den Formalismus des Wählens reduziert.[19]
Im zu beginn der zweiten Republik entstandenen sozialkorporatistische System, bildete das, in kontrollierbaren Institutionen organisierte Volk einen integralen Bestandteil der politischen Entscheidungsprozesse. In der von Volksbewegungen geprägten Ära Kreisky erreichten die bürgerlichen Demokratie, wie auch der Antikommunismus der ihre Grenzen aufzeigte, ihren Höhepunkt. Die Willkür der einzelnen Kapitalisten wurde durch Regulierungen eingeschränkt. Wesentliche Teile der Produktion befanden sich unter der Kontrolle der Republik. Doch nach dem Ende der Sowjetunion und der (neo)liberalen Wende drängte insbesondere die Europäische Union auf die Privatisierung des öffentlichen Verkehrs, des österreichischen Staatsmonopol auf Glücksspiel und sogar der Post. Die Anarchie in der Produktion hat überhand genommen, was angesichts der Schonung natürlicher Ressourcen ein ernstes Problem darstellt.
Das Volk wird sich die Kontrolle über seine Lebensbedingung mit Zinsen zurück holen. Alle Werktätigen werden sich darauf einigen die schlimmsten Formen der Korruption und die Monopole des Kapitals zu bekämpfen. Doch die Motivation die grundlegenden Probleme zu beheben liegt vor allem bei den Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern. Sie haben im 20. Jahrhundert gezeigt, dass sie auch ohne Kapitalisten weitermachen können. Es sind die Herrschenden welche von der Arbeitskraft und den Steuern des Volkes abhängig sind. Das Recht geht also von ehrlichen menschlichen (Grund-)Bedürfnissen und der Arbeitskraft des Volkes aus. Auch wenn die moralistischen Verurteilungen und Drohungen der nationalen Eliten und ihrer europäischen Dachverbände (EU bzw. European Round Table of Industrialists und Buisnesseurope) bedrohlich erscheinen mögen und innerhalb der Zivilgesellschaft für Ängste und Streit sorgen, so sind sie letztendlich doch nur Papiertiger. Rein praktisch betrachtet stellen sie ausgesprochen unzuverlässige Orientierungspunkte dar. Die Gemeinnützigkeit und Sinnhaftigkeit der Produktion und des gesellschaftlichen Zusammenlebens kann also nur durch die Selbstorganisation der werktätigen und konsumierenden Menschen sichergestellt werden.
[1] An die Versammlung gemeiner Bauernschaft. In: Adolf Laube (Hg.), Flugschriften der Bauernkriegszeit (Wien-Köln 1978) 114-116f, 130.
[2] Johannes Althusius, Politik. Übersetzung Heinrich Janssen (Berlin 2003) Vorwort der 3. Auflage (1614).
[3] Walther Pohl, Die Awaren (München 1988), 4. 94-97.
[4] Walter Pohl, Die Awaren, 6.11. 215-221.
[5] Walther Pohl, Die Awaren, 7. 256-261.
[6] Schleitheimer Artikel. In: Ulrich Köpf (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung Bd. 3. Reformationszeit 1495-1555 (Stuttgart 2001) 294.
[7] Althusius, Politik, Kapitel II, §26, 30.
[8] Althusius, Politik, Kapitel XXIII, §25.
[9] Hannes Hofbauer, Andrea Komlosy, Das andere Österreich. Vom Aufbegehren der kleinen Leute (Wien 1987) Die Revolte des „Pöbels“ 105-114.
[10] Andrea Komlosy, Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitverlauf (Wien 2018) 1.4 Neuzeitliche Flächenhaftigkeit und kolonialstaatliche Erweiterungen (16. bis 19. Jahrhundert). Althusius, Politik, Kapitel XI.
[11] Eric Hobsbawm, Bemerkungen zu Tom Nairns „Modern Janus“. In: Tom Nairn, Eric Hobsbawm, Régis Debrary, Michael Löwy (Hg.), Nationalismus und Marxismus. Anstoß zu einer notwendigen Disskusion (Berlin 1978) 46-48.
[12] Hobsbawm, Bemerkungen zu Tom Nairns „Modern Janus“, 56-59. Wladimier Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Thesen (Januar-Februar 1916) online unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/01/nationen.html
[13] Rosa Luxemburg, Nationalitätenfrage und Autonomie (1908).
[14] In: Alfred Klahr, Zur österreichischen Nation. Mit einem Beitrag von Günther Grabner herausgegeben von der KPÖ (Wien 1994) 16. Online unter: https://www.kpoe-steiermark.at/dl/2681f7480fc6ea043b078f7104ec8d53/alfred%20klahr%20%C3%B6sterreich.pdf?target=1
[15] In: Alfred Klahr, Zur österreichischen Nation, 41.
[16] Ernst Karl Winter (1895-1959). Sozialhistoriker, Politiker und Verleger. War während des Austrofaschismus von 1934 bis 1936 (dritter) Vizebürgermeister Wiens und in dieser Funktion eine Art „Verbindungs- und Vertrauensmann“ für Kontakte zur illegalen Arbeiterbewegung. Als überzeugter Legitimist wandte sich E. K. Winter Kraft seines politischen Einflusses schon sehr früh gegen großdeutsche Strömungen und Tendenzen, insbesondere gegen den Nationalsozialismus, wobei er in der Arbeiterbewegung einen Bündnispartner im Kampf für die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs erblickte. E. K. Winter war Gründer und Leiter des Gsur-Verlags, in dessen Publikationen vor allem die katholische Soziallehre verbreitet wurde, sehr früh aber auch antinationalsozialistische Schriften erschienen. Dem Regime erschien Winters Abgrenzung zu Arbeiterbewegung als zu schwach, seine entschiedene Agitation gegen den Nationalsozialismus als zu provokativ, weshalb gegen ihn der Vorwurf erhoben wurde, dass er „geheime Volksfrontpropaganda“ betreibe, woraufhin sein Verlag geschlossen und er 1936 seiner politische Ämter enthoben wurde. Wenige Tage vor der Okkupation Österreichs gelangte E. K. Winter ins Exil in der Schweiz und von dort weiter in die USA, wo er mit der Niederschrift und Systematisierung seiner Theorien zur österreichischen Nation begann. Obwohl er 1955 nach Österreich zurückkehrte, blieb ihm eine publizistische oder politische öffentliche Plattform verwehrt. Sein Werk zur österreichischen Nation („Die Geschichte des österreichische Volkes“) blieb unvollendet, es wurde erst 2018 in einem Kleinverlag aus dem Nachlass herausgegeben.
[17] Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Centrist Liberalism Triumphant, 1789–1914 Bd. 4 (Berkeley 2011) Centrist Liberalism as Ideology, 10.
[18] Wallerstein, Centrist Liberalism as Ideology, 13. Althusius, Politik, Vorwort zur dritten Auflage, Kapitel I §4, Kapitel XI,
[19] https://braveneweurope.com/thomas-fazi-and-william-mitchell-the-eu-cannot-be-democratised-heres-why