Immer wieder ist die Rede von der „Alten Friedensbewegung”, die fast ganz selbstverständlich im Gegensatz zum gemeinen „Verschwörungstheoretiker“, „Schwurbler“ oder „Putinversteher“ gebracht wird. Nun muss ich mich aber fragen, was zeichnet denn diese altehrwürdige Friedensbewegung aus? Um welche Tradition geht es und wie alt ist sie wirklich? Das Klischee von den Grünen Hippies prägt so manche Vorstellung von Friedensbewegung. Jetzt da die Grünen sich aber immer unverschämter als Kriegspartei outen1, gibt es hier aber offensichtlich einiges zu überdenken. Ist dieses Bild wirklich repräsentativ für die Friedensbewegung? Gab es denn vorher keine? Was war der unverzichtbare Beitrag vorheriger Friedensbewegungen?
Die Versuche Kriegesgräuel zu vermeiden sind freilich weit älter als die moderne Friedensbewegung. Dass die Sache leichter gesagt als getan ist, drücken die vielen Redensarten darüber aus, dass sich die Geschichte – als Tragödie oder als Farce – wiederhole.
Zwischen persönlichem Gewaltverzicht und tugendhaftem Eifer
„Tugend, ohne die der Terror verderblich ist. Terror, ohne den die Tugend ohnmächtig ist.“ So formulierte der französische Säkularist und Patriot Maximilien Robspieere (1758-1794) das Dilemma der revolutionären Gewalt – es ist wohl auch für die Friedensbewegung nicht uninteressant. Die pazifistische Perfektion verbietet die Verurteilung und das konsequente Vorgehen gegen die Kriegstreiber, also ihre Unterordnung oder Bestrafung. Sie stolpert in der weltlichen Praxis daher über sich selbst. Die Frage des gerechten Krieges lässt sich auch in der christlichen Tradition (Wo sie vom Kirchenvater Augustinus von Hippo theologisch ausgearbeitet wurde: De Civitas Dei, 420) nicht übergehen.
Auch die säkular orientierte Friedensbewegung tut gut daran im Vorhinein – also bevor ihre Gesellschaft mitten in einen militärischen Konflikt gerät oder sie auf emotionalisierende Kriegspropaganda reagieren muss – eine klare Position zu erarbeiten. Eben dazu ist die altehrwürdige bürgerliche Friedensbewegung aber nicht imstande, stattdessen wird diskutiert vor welcher Seite sich die armen und hilflosen Lämmer der Zivilbevölkerung, nach diesem oder jenem Angriff, mehr zu fürchten haben.
Anstatt einer ehrlichen Diskussion über Kriegsursachen, Interessenskonflikte und die Frage des gerechten Krieges wurden in den letzten Jahrzehnten alle Autoritäten, die in Feindschaft zur Nato stehen dämonisiert, indem man sie zu neuen Hitlers erklärt: sei es Slobodan Milošević, Sadam Hussein oder Vladimir Putin. Der ängstliche Kampf gegen das unbegreifbare Böse wird zur Zivilisations- oder Schwertmission, die offensiv versucht, einer fremden Gesellschaft schein-liberale Ordnungsvorstellungen von außen aufzuzwingen. Auf die vollkommene Verdrehung des christlichen Pazifismus, die sich mit der Kreuzzugdoktrin des Hochmittelalters vollendete, reimt sich die Politik der Linksliberalen heute, welche zwischen der absoluten persönlichen Gewaltlosigkeit und dem staatlichen „Antifa“-Imperialismus hin und her springen. Sie pervertieren damit gleichzeitig den historischen antifaschistischen Widerstand und den gewaltlosen bürgerlichen Pazifismus.
No Justice no Peace
Was an Augustinus und der (historischen) christlichen Friedensbewegung als Fortschritt gewürdigt werden muss, ist der Übergang von der affektierten und familienzentrierten Blutrache hin zur Sühne gegenüber der gesamten Eidgenossenschaft. Das Ziel einer gerechten Fehde ist nicht die Vernichtung des – sondern die Versöhnung mit dem Feind. Diese ist aber erst dann möglich, wenn jener, der gegen die Regeln des Gemeinwesens bzw. das Naturrecht gehandelt hat, zur Einsicht bewegt wird und Buße tut. Im Sinn der genossenschaftlichen Solidarität besteht sogar die Pflicht, einander beizustehen, dem gerechten Streit nachzugehen und den Friedensbrecher in die Schranken zu weisen. Zur Illustration sei auf die Bibel verwiesen: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan” (Matthäus 25, 40). Die Frage der gerechten Fehdeführung ist in der muslimischen Tradition allerdings mindestens so gut ausgearbeitet wie in der christlichen.
Während das Naturrecht (einschließlich des Menschenrechts) sich aus der natürlichen Nächstenliebe herleitet, geht die spezielle Ausformung des vom Menschen gesetzten Recht– die Friedensordnung – von einem speziellen weltlichen Standpunkt aus. So sprach man in der Tradition der christlichen Landfriedensbewegung von Landständen. Die Herrschaften der Kirchen, der Gutshöfe des Adels und auch die Oligarchen der mächtigsten Städte vertraten ihren jeweiligen Standpunkt auf Landtagen wo sie sich mit dem Landesherrn auf eine Friedensordnung einschworen und einander Beistand gegen Landfriedensbrecher versprachen. Nach und nach versuchte man Konflikte auf den Gerichtssaal zu verlagern. Aufstände waren seit der Proklamation des ewigen Landfriedens von 1495 formell verboten. In der weltlichen Praxis konnte das christliche Ideal von der Harmonie der Stände freilich nie erreicht werden. Den Herrschenden ging es in letzter Konsequenz darum, weite Teile der Gesellschaft für ihr System der Aufstandsbekämpfung zu gewinnen. Dass die Sorge um den Landfrieden von Seiten der Herrschenden zum reinen Vorwand für willkürliche politische Repression geworden ist, wurde bei uns in Österreich so offensichtlich, dass man den Namen des Landfriedensbruch Paragrafen - aufgrund von einigen Schandurteilen – vor wenigen Jahren schließlich sogar änderte.2
Da willkürliche Gewalt keine langfristige Befriedung schaffen kann und jede Herrschaft zumindest den Schein der Gerechtigkeit waren muss, braucht sie ein Rechtssystem. Der britische Ethiker, Ökonom und Vordenker des Liberalismus Adam Smith, sah eine große Chance in der Perfektion dieses juristisch gedeckten staatlichen Gewaltmonopols und der daraus resultierenden Harmonisierung des Gerechtigkeitsempfindens der Menschen. Doch auch Smith kam in seinem Hauptwerk von 1759 zum Schluss, dass jedes Rechtssystem nur ein unvollkommener Versuch der Annäherung an universelle Gerechtigkeit bleibt. Er erkannte das Problem, dass das Gemeinwesen von einem speziellen Standpunkt („interests of particular orders of men“3) dominiert und sogar tyrannisiert wird, welcher in Widerspruch zum natürlichen Gerechtigkeitsempfinden gerät. Er warnte an anderen Stellen vor dem monopolistischen Interesse mancher Kapitalfraktionen, die auch vor ausländischen Märkten nicht halt machen. Insofern geht also auch jede tatsächliche Friedensbewegung – selbst wenn sie das transzendentale Ziel der klassenlosen Gesellschaft verfolgt – von einem speziellen weltlichen Standpunkt aus.
Mit einer Selbstverständlichkeit sprach man während des Ersten Weltkriegs (1914-1918) und danach von einer bürgerlichen und proletarischen Friedensbewegung. Die erfolgreiche Beendigung des Ersten Weltkrieges durch die Streik- und Friedensbewegung war schlussendlich unmittelbar mit der Frage verbunden, welche Seite nun tatsächlich in der Lage sei, eine neue europäische Friedensordnung zu gestalten. Als beispielsweise 1927 in der Gemeinde Schattendorf im Burgenland, ein sechsjähriges Kind (Josef Grössing) – das an einer unbewaffneten Demonstration der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung (Republikanischer Schutzbund) teilnahm – von Faschisten erschossen wurde, sprach die Justiz den Schützen frei. Es war nur einer von vielen solchen Fällen im Europa der Zwischenkriegszeit. Darauf hin begann man in Wien Massendemonstrationen gegen die Klassenjustiz abzuhalten. Als die berittene Polizei mit Säbeln in der Hand gegen die Demonstration vorging, zündeten diese den Justizpalast an. Sozialdemokratische Reformen und Antikolonialbewegungen konnten sich schließlich erst nach dem Sieg des Sowjetischen Rechts über den Faschismus 1945 richtig entfalten.
Die Black Lives Matter Bewegung in den USA (BLM) hat im letzten Jahrzehnt infolge diverser Morde an der afroamerikanischen Arbeiterjugend treffenderweise „no justice no peace“ zu ihrem Slogan gemacht. Zwar führte diese Bewegung nicht zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen wie in der Zwischenkriegszeit, doch auch hier wurde die ein oder anderen Polizeistationen angezündet.4 BLM stieß - in sicherer Entfernung - bei der europäischen System-Linken auf großen Widerhall. Die unzähligen Morde an den (meist erschreckend jungen) Palästinenserinnen und Palästinensern durch das israelische Apartheid-Regime (wo der kolonialistisch Zusammenhang nicht nur historisch sondern ganz unmittelbar ist), sie werden von links-liberaler Seite in Österreich hingegen – sofern sie überhaupt wahrgenommen werden – wie eine Humanitäre Katastrophe ohne politische Verantwortlichkeit gehandhabt.
Die ungeheuerliche Ungerechtigkeit die dem palästinensischen Volk widerfährt, wird international zwar formell verurteilt (UN-Resolutionen gegen israelische Besatzung und Apartheid), die Feindschaft zum israelischen Regime und die Parteinahme für den Widerstand werden hingegen kriminalisiert. Obwohl es im US-dominierten Weltsystem ganz offenkundig keinen neutralen Gerichtshof gibt, an den sich die Geschädigten wenden könnten, um zu ihrem Recht zu gelangen, wird an der moralischen Überlegenheit der sogenannten regelbasierten westlichen Ordnung gegenüber gerechtfertigtem Volkszorn, festgehalten. Sie nennen Israels Krieg gegen seine palästinensischen Untertanen – wie Netanyahu und Nehammer einander am 25. Oktober 2023 bestätigten – einen Kampf gegen die Barbarei und inszenieren sich als Verteidiger der Zivilisation.5
Dass man in der muslimischen Tradition das Pflichtbewusstsein für einen gerechten Frieden auch heute noch pflegt, ist im allgemeinen höchst bewundernswert.6 Der Liberale hingegen ist passiver Empfänger (man möchte sagen Konsument) von Gerechtigkeit, er hat jede Verantwortung dafür an eben jenes staatliche Gewaltmonopol abgegeben, welches ungerechte Kriege führt, während es die Bürgerrechte der Unterdrückten beschneidet. Er hat der Tyrannei des westlichen Monopolkapitals nichts weltliches entgegenzusetzen (weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene) und kann die Ungerechtigkeit nur machtlos und weinerlich beschreiben und hoffen dass andere daraus Konsequenzen ziehen. Dass unter den gegebenen Bedingungen gar kein dauerhafter Frieden im Nahen Osten möglich ist, das ist ein offenes Geheimnis.
Der Burgfrieden und die tatsächliche Weltfriedensbewegung
Wer heute für den Weltfrieden und daher gegen den Kriegskurs der Herrschenden protestiert, darf sich keine Illusionen machen – er wird in einen Konflikt mit den Eliten geraten, als Lumpenpazifist beleidigt oder mit dem Vorwurf des Landesverrats konfrontiert. Zieht er nicht zurück und verkrümmt sich – lässt er sich nicht in die Rolle des Geistlichen, des Träumers oder des Marxologen verdrängen, sondern nähert sich dem weltlichen Lager der Opposition an, so wird der Unruhestifter heute als Putinversteher und Terrorist bezeichnet und aus der Diskussion verdrängt.
Weil ein ungerechter Frieden aber nun einmal nicht halten kann, gibt es immer mehr von dieser Sorte. „Verschwörungstheoretiker“, die die Lügen der Herrschenden nicht glauben und doch keine kampfgestählte Partei bilden, welche ihnen Wahrheit und Gerechtigkeit entschlossen entgegen halten könnte. Solche die keine vertrauenswürdige Standesvertretung haben. Solche die von Faschismus oder Diktatur sprechen, vor dem vermeintlichen Landfriedensbruch aber trotzdem entschieden zurückschrecken. Die Ungerechtigkeit der bestehenden Weltordnung infrage zu stellen ist das eine, die österreichischen Kriegstreiber aber politisch herauszufordern, das ist leichter gesagt als getan.
Was kann denn – so heißt es oft – das kleine Österreich an der Weltordnung ändern? Tatsächlich wäre mit der Einhaltung der Neutralität bereits viel gewonnen. Warum sollten wir uns – klagen andere – einen ausländischen (und dazu noch identitär belasteten) Konflikt ins Land hereinholen? Das wird doch kaum Klarheit für die Verurteilung und Verfolgung der korrupten Eliten und Neutralitätsbrecher schaffen. Ohne die Konkretisierung des Konfliktes andererseits aber zerläuft sich die oppositionelle Anstrengung für Frieden und Gerechtigkeit in tausend verschiedene Richtungen. Die Tyrannei des monopolistischen Kapitals drückt sich auf tausend verschiedene Arten aus und lässt sich an ebenso vielen verschiedenen Köpfen festmachen.
Die Anstrengung für den Weltfrieden muss hingegen – das lehrt die Erfahrung des 1. Weltkriegs und der sogenannten „Burgfriedenspolitik“ – eine internationale sein, sie darf sich nicht durch die partikular Interessen der sozialdemokratischen Führung, der Kirchen oder sonstiger Karrieristen spalten lassen. Sie muss die nationale Einheit von unten organisieren und eine klare Linie zwischen uns und dem Lager der Weltfriedensbrecher in Österreich ziehen.
1 Selbst der Standard kann dies nicht mehr verstecken: https://www.derstandard.at/story/2000135415458/gruene-ruecken-vom-pazifismus-ab
2 https://wien.orf.at/v2/news/stories/2754230/
3 Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments (1759) Part VII, Section IV, Conclusion
4 https://www.mprnews.org/story/2020/06/30/the-precinct-is-on-fire-what-happened-at-minneapolis-3rd-precinct-and-what-it-means
5 https://www.gov.il/en/departments/news/pm-netanyahu-meets-with-austrian-chancellor-karl-nehammer-25-oct-2023
6 https://www.middleeastmonitor.com/20240927-islam-and-liberation-psychology-a-pillar-of-psychological-struggle-in-occupied-palestine/