Als die „Studierenden für die palästinensische Sache“ (Students for the Palastinian Cause) im Dezember an der Universität für Angewandte Kunst meinten, dass die Al-Aqsa-Flut-Operation, welche am 7. Oktober unter der Führung der Hamas durchgeführt wurde, nicht als erst Aggression betrachtet werden kann, weil sie im Kontext der fortlaufenden Gewalt und jahrzehntelangen Besatzung Palästinas betrachtet werden muss, ging ein Aufschrei durch die österreichische Medienlandschaft. Die Studierenden berufen sich auf den UN-Generalsekretär António Guterres, der ebenso darauf hinwies, dass der Angriff nicht in einem Vakuum stattfand und einen Waffenstillstand forderte. Im Rahmen der Ermittlung wegen Völkermords forderte der Internationale Strafgerichtshof Israel am 26. Jänner dazu auf, die Bombardierung des Gaza-Streifen zu beenden und die Lieferung von humanitären Gütern in den Gaza-Streifen zuzulassen. Zwischen den diversen UN-Resolutionen, welche die völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen in Palästina verurteilen und dem Amnesty international Bericht, der Israel als Apartheidstaat verurteilt, gibt es genügend Vorwürfe die man Israel machen kann, ohne den Boden der political correctness zu verlassen – sollte man meinen. [1]
Regierungsvorlage zur Reform des Verbotsgesetzes
Laut dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu hingegen sind die Hamas „die neuen Nazis“.[2] Die österreichische Regierung sieht in der aktuellen Lage Anlass für ein „entschiedenes Vorgehen gegen Antisemitismus und NS-Verherrlichung“ und bereitet eine Reform des Verbotsgesetztes vor, die das Tragen von Hamas-Symbolen – von denen selbst die Polizisten kaum, wissen wie sie aussehen – mit dem von NSDAP-Abzeichen gleichsetzt. Der Tatbestand der Verharmlosung oder Relativierung der NS-Verbrechen soll ausgeweitet werden. "Die Verherrlichung oder das Gutheißen von Terrorismus, Extremismus oder Antisemitismus hat in unserem demokratischen Zusammenleben keinen Platz", sagte Innenminister Gerhard Karner.[3]
Dass der nationalsozialistische Staatsterror als solcher benannt und mit der Niederlage des deutschen Imperialismus verboten wurde, das hat sich das österreichische Volk zwar nicht selbst erkämpft, dennoch hat es dadurch an Freiheit gewonnen. Auch vor ihrer formellen Machtergreifung waren die verschiedenen Faschisten nichts als die Kettenhunde der Herrschenden, welche die Arbeiterbewegung durch Straßenterror in ihre Schranken weisen sollten. Rechtliche Konsequenzen hatten sie kaum zu befürchten. Ist heute von Extremismus die Rede, so bezeichnet man damit ohne Differenzierung jede Abweichung von der staatstragenden liberalen Mitte. Extremistisch ist im Grunde jede marginalisierte Randgruppe der Gesellschaft, vor allem wenn sie einen eigenständigen politischen Anspruch erhebt. Sie wird bestenfalls geduldet aber niemals akzeptiert. Wenn eine tatsächlich oppositionelle Organisation dann als terroristisch einstuft und verfolgt wird, ist das die konsequente Fortsetzung davon. Wird aber selbst die „Verherrlichung“ und „das Gutheißen“ von Staatsfeinden im allgemeinen kriminalisiert, so wird der Rahmen der geduldeten Meinungen immer enger.
Antisemitismus hingegen – sollte man meinen – das ist ein überschaubarer Tatbestand. Aber wird nicht seit längerem gerade behauptet, dass JEDE Kritik am Staat Israel antisemitisch sei? Zugegeben, nicht jede Kritik ist gut und es sollte immer vermieden werden mit zweierlei Maß zu messen. Doch die zunehmende Empfindlichkeit zeugt nicht von einer demokratischen Debattenkultur. Gerade wenn jemand von niedrigerem Rang oder zweifelhaftem Ruf sich in heikle Debatten einmischt, werden Antisemitismusvorwürfe allzu leichtfertig ausgesprochen.
Insbesondere in den letzten Jahren wurde eine willkürliche Ausdehnung der auf den Kopf gestellten Antisemitismus-Debatte vorbereitet. Fast alle Themenbereiche, in denen ein Misstrauen gegenüber Entscheidungsträgern zum Ausdruck kommen könnte, gelten als problematisch. Anstatt die sachlichen Vorwürfe des Siedlerkolonialismus und der Apartheid, die Israel entgegengebracht werden, ernst zunehmen, wechselt durch die Antisemitismus-Debatte das Thema zu religiösen Vorstellungen von Volk und Nation. Selbst in der Inszenierung des österreichischen Kanzlers geht es um eine Art Glaubenskrieg. Als Karl Nehammer und Netanyahu am 25. Oktober in Tel Aviv Hände schüttelten, bestätigte Nehammer Netanyahu, dass er ihn im „Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei“ unterstützt, sie „die selben Werte“ teilen und einen gemeinsamen Kampf kämpfen.[4] Der israelische Verteidigungsminister Jo‘aw Galant geht im Bezug auf die Palästinenserinnen und Palästinenser sogar soweit, von einem Kampf „gegen menschliche Tiere“ zu reden, in dem alle Mittel recht sind.[5]
Zivilisationsmission oder Freunderlwirtschaft?
Dass der (Neo-)Liberalismus sich über die speziellen Glaubensvorstellungen der Völker stellt und die Profitlogik der herrschenden Klasse kulturelle Grenzen überschreitet, ist nichts neues. Auch die Vorstellung einer westlichen Zivilisationsmission ist eine altbekannte Methode des Kolonialismus. Nur war es zuletzt noch üblich dem nackten imperialistischen Interessen das Verbreiten von liberalen Institutionen vorzuschieben. So hat man uns etwa 20 Jahre lang erzählt, das Morden in Afghanistan diene dem Zweck dort eine „demokratische“ Regierung einzusetzen. Wie wenig Rückhalt diese im afghanischen Volk hatte und wie kolossal der Westen dort auf ganzer Linie gescheitert ist, das hat sich mit dem Rückzug der USA und dem raschen Zusammenbruch der von ihr diktierten Ordnung 2021 gezeigt.
Doch stellt sich die israelische Staatselite so einen überkulturellen moralischen Anspruch überhaupt? Die Verurteilung des palästinensischen Widerstands und der Solidaritätsbewegung erfolgt nicht in der universellen Sprache des (Neo-)Liberalismus, sondern durch die einmalige jüdische Erinnerung an die Shoah. Die österreichischen Parlamentsfraktionen erklären sich geschlossen solidarisch mit der israelischen Führung und berufen sich dabei auf die historische Verantwortung Österreichs. Solange die Generation der Täter und Opfer des Nationalsozialismus größtenteils noch am Leben war, wollten die herrschenden Österreichs von Strafverfolgung und Restitutionen so wenig wie möglich hören. Mehrere Generationen im Nachhinein tun sie nun so als ginge es ihnen darum, eine kollektive Ehrenschuld zu begleichen.
Als eines von nur zehn Ländern stimme Österreich in der UN-Vollversammlung aktiv gegen einen Waffenstillstand und somit für die Kollektivbestrafung der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen. In der Innenpolitik wollen die (Links-)Liberalen kein Volk sondern nur individuelle Staatsbürger kennen. Gleichzeitig aber stehen alle Eliten voll und ganz hinter dem Prinzip der Sippenhaftung wenn es um Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber den Volksmassen geht oder diese für ihre Verbrechen und Verluste aufkommen sollen.
Der Shoa-Diskurs – von dem der Großteil der österreichischen Gesellschaft als nicht-Juden per Definition ausgeschlossen ist – wird als Entscheidungsgrundlage für die österreichische Politik vorgeschoben. In Wahrheit filtern die Medien aber nach politischen Kriterien welche jüdische Stimmen sie wann zu Wort kommen lassen. Die israelische Regierung hat der Inszenierung als Opfer im Kontext des aktuellen Konflikts so weit getrieben, dass unter anderem sogar der Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Dani Dajan, widersprach.[6] Es sei daran erinnert, dass Netanyahu vor diesem Krieg in der israelischen Gesellschaft wenig Rückhalt hatte und mit großen Protestbewegungen konfrontiert war. Die jüdische Diaspora lebt auch heute den genauen Gegenentwurf zum zionistischen Projekt, wird aber – wie die Opfer des Nationalsozialismus – trotzdem dafür vereinnahmt.
Die aktuelle Diskussion darüber, ob es Israel als Mitglied im Club der liberalen „Demokratien“ zusteht Palästina zu besetzen, den Palästinenserinnen und Palästinensern das Bürgerrecht zu verwehren und sie – sofern sie sich wehren – in die Steinzeit zurück zu bombardieren, ist schlicht pervers. Angesichts dessen von gemeinsamen zivilisatorischen Werten zu sprechen, wirft viele Fragen über unsere eigene Elite und ihre sogenannten liberalen Werte auf. Die Praxis der Herrschenden zeigt, dass ihr einziges Kriterium Unterordnung ist. Im sogenannten Krieg gegen den Terror werden vor allem die Muslime unter Druck gesetzt, doch es werden nicht NUR sie unter Druck gesetzt. Bürger- und Menschenrechte gelten entweder für alle oder sie werden im Sinn der herrschenden Klasse ausgehöhlt. Wenn wir den Staatsterrorismus und seine Kriegsmaschinerie im konkreten zurückdrängen, unsere Meinungsfreiheit verteidigen und unsere demokratischen Rechte ausbauen wollen, dann dürfen wir uns auch in diesem Zusammenhang nicht einschüchtern lassen und auch für Israel keine Ausnahmen erlauben.
[1] Instagram von SoPC: https://www.instagram.com/spc_austria/p/C04-ej3sksx/?img_index=9 https://www.theguardian.com/world/2023/oct/24/un-calls-for-immediate-ceasefire-to-end-epic-suffering-in-gaza https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20240126-ord-01-00-en.pdf
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/netanjahu-rede-hamas-israel-100.html
[3] https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=384E684977502B6E5467633D
[4] Prime Minister Netanyahu at the start of the meeting: "I thank you, Chancellor, for coming here. You’ve expressed unqualified support for Israel. It’s our darkest hour, and your support is important. Because this is a battle of civilization against barbarism, and Israel is fighting the battle for civilization, which I know you support. Thank you for coming here. Austrian Chancellor Nehammer: "Absolutely. That’s the reason why I am here, also as my Prime Minister colleague from the Czech Republic, because we stand on the side of Israel. We have the same and share the same values. And the joint fight against terrorism is now more important than ever." https://www.gov.il/en/departments/news/pm-netanyahu-meets-with-austrian-chancellor-karl-nehammer-25-oct-2023
[5] https://www.faz.net/aktuell/israel-krieg/israel-krieg-portraet-des-verteidigungsministers-gallant-19245070.html
[6] https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-israels-un-botschafter-mit-gelbem-stern-vergleich-mit-d-day-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-231031-99-769826