Das am Donnerstag präsentierte Regierungsprogramm der ÖVP-SPÖ-NEOS Koalition entspricht der politisch korrekten Variante der Protokolle, die am Ende der gescheiterten ÖVP-FPÖ Koalitionsverhandlungen als Leak an die Öffentlichkeit gelangt sind. Politisch korrekt deshalb, weil die geleakten Protokolle Formulierungen enthielten, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren und somit eindrücklich zur Schau stellen, welche Interessen einen Einfluss auf Inhalte und Prioritäten der Parteien ausüben. Besonders die Handschrift der ÖVP sticht an entscheidenden Stellen, bei denen Grundrechte für den Machterhalt aufgeopfert werden, hervor. Dieselbe Handschrift ist im aktuellen Regierungsprogramm durchaus wieder erkennbar und der Beweis dafür, dass die kompromisslose Strategie der ÖVP aufging, als diese zum Beispiel die Messenger-Überwachung zur Koalitionsbedingung erklärte.
Eine kursorische Lektüre des neuen Regierungsprogramms reicht aus, um ernsthafte Sorgen über die Zukunft Österreichs als “liberale” Demokratie zu erwecken. An vielen Stellen wird die grundsätzliche Ausrichtung Österreichs als Neutraler Staat in Frage gestellt, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unterlaufen, die demokratische Partizipation eingeschränkt und Grundwerte durch die Ausweitung von Überwachungskompetenzen geopfert. Insbesondere in den Bereichen Sicherheit haben bestimmte Segmente der Bevölkerung (z.B. Muslime) mit gravierenden Verschlechterungen (Erweiterung der Überwachung und Stigmatisierung, z.B. Kopftuchverbot für Mädchen) zu rechnen. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen plant die neue Bundesregierung ein budgetäres “Maßnahmenpaket” dessen Konsequenz eine radikale Umverteilung nach oben vorsieht.
Das Scheitern der ÖVP-FPÖ Koalitionsverhandlungen wurde international durchaus positiv aufgenommen. Auf nationaler Ebene war lediglich die Industriellenvereinigung etwas verstimmt, da ihnen durchaus Bewusst war, dass nur eine ÖVP-FPÖ Koalition das vorteilhafteste Ergebnis für deren Klientel hervorbringen wird. Die Tatsache, dass die neue ÖVP-SPÖ-NEOS Koalition ein autoritäres Regierungsprogramm geschnürt hat, das in der zweiten Republik seines gleichen sucht scheint niemandem ein Kommentar wert zu sein. Nur damit es da kein Missverständnis gibt, die FPÖ ist durch ihr Minimum an Opposition in Punkten, die in ihrem Interesse sind, nicht automatisch eine gute Alternative. Was jedoch grotesk ist, ist die Tatsache, dass eine Koalition gefeiert wird, die noch viel schlimmer ist als die FPÖ dargestellt wird
Entdemokratisierung
Dem gesunden Menschenverstand nach ist eine Gesellschaft in dem Maße demokratisch, in dem die Bevölkerung in sinnvoller Weise an der Verwaltung ihrer Angelegenheiten Anteil nehmen kann. Die doktrinäre Bedeutung von Demokratie in Österreich ist jedoch eine andere: Diese bezieht sich auf ein System, in dem Entscheidungen von Teilen der Wirtschaftswelt und deren verwandten Eliten getroffen werden. Die Öffentlichkeit spielt in dieser Deutung nur die Rolle eines Zuschauers des Geschehens, und keinen Teilnehmer. Sie darf die Entscheidungen derjenigen, die ihnen vorgesetzt sind, billigen und den einen oder anderen von ihnen unterstützen, darf sich jedoch nicht in Angelegenheiten einmischen – wie etwa die “Liste GAZA” in die öffentliche Politik –, die sie nichts angehen.
Die “Liste GAZA” wird zwar im Vergleich zu den geleakten Protokollen zwischen ÖVP-FPÖ nicht mehr explizit im neuen Regierungsprogramm als Beispiel einer antidemokratischen Partei erwähnt, die ÖVP hat jedoch erkannt, dass der demokratische Prozess “mehr Kontrolle” bedarf, was die Parteiengründungen angeht (S.125 des Regierungsprogramms), um Instrumente zur Verfügung zu Stellen mit denen unliebsame demokratische Entwicklungen “gemanaged” werden können um “die Stabilität” nicht zu gefährden.
Die »Prüfung der Verankerung zusätzlicher Untersagungsmöglichkeiten im österreichischen Parteienrecht [...] (Stichwort "wehrhafte Demokratie")« hat somit nicht nur als Ziel zusätzliche Kontrollwerkzeuge gegen partizipative Demokratie auszuloten, sondern auch gesellschaftliche Protestbewegungen in die Schranken zu Weisen.
Kampf gegen den Islam
Der „Kampf gegen den Islam“ stellt in Österreich ein Sinnbild für Orwells Problem dar; nämlich warum wir so wenig über den Themenbereich wissen und verstehen, obwohl die zur Verfügung stehenden Informationen so umfangreich sind. Die Fähigkeit des gesamten politischen und medialen Spektrums, Überzeugungen zu vermitteln, die fest verankert und weithin akzeptiert sind, obwohl sie völlig unbegründet und oft im Widerspruch zu offensichtlichen Tatsachen über die Welt um uns herum stehen, ist durchaus beeindruckend.
Offensichtliche Tatsachen wie zum Beispiel die Veröffentlichung einer EU-weiten Umfrage unter Einwanderern und ihren Kindern durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), die aufdeckt, dass „jeder zweite Muslim in der EU in seinem täglichen Leben Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt ist – ein starker Anstieg seit 2016.“ Man kann der österreichischen Presse nicht vorwerfen, dass sie nicht über die Umfrage berichtet hat. In den Fällen, in denen darüber berichtet wurde, wurde die Ursachenanalyse jedoch stillschweigend ausgelassen, und die Schlagzeilen zielten darauf ab, jede Vorstellung von Objektivität zu diskreditieren, indem sie behaupteten, dass „Muslime in Österreich sich subjektiv am meisten diskriminiert fühlen“.
Die rigorose Umfragemethodik der Studie indiziert eine hohe Aussagekraft und erfordert somit ein erstaunliches Maß an Unwissenheit, um zu leugnen, dass „muslimische Befragte in Österreich (66% in den 12 Monaten vor der Umfrage und 74% in den 5 Jahren vor der Umfrage) die höchsten Diskriminierungsniveaus erfahren“, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Österreich in fast allen untersuchten Aspekten durchwegs am schlechtesten abschneidet; ein Ergebnis, das zu einer weit verbreiteten Verurteilung und Kritik der österreichischen Integrations- und Einwanderungspolitik führen sollte.
Allerdings sucht man im Regierungsprogramm vergeblich nach auch nur einem einzigen Vorschlag, der sich mit dem erschreckenden Ausmaß des Rassismus gegen Muslime in Österreich befasst. Dieser Umstand steht in völligem Widerspruch zur Tatsache, dass der Islam, offiziellen Regierungsstatistiken nach, die zweitgrößte Glaubensrichtung in Österreich darstellt. Das Thema Rassismus gegen Muslime ist nicht nur im Diskussionsrahmen des Regierungsprogramms absent, im Gegenteil, es finden sich viele politische Vorschläge, die darauf abzielen, die Überwachung, Stigmatisierung und weitere Ausgrenzung des Islam und damit der Muslime aus der übrigen Gesellschaft aktiv zu beschleunigen.
Neutralität
Das österreichische Neutralitätsgesetz hält fest, dass die immerwährende Neutralität freiwillig erklärt und aufrechterhalten wird. Österreich wird keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen.
NEOS abgeordnetem Veit Valentin Dengler (ehemaliger CEO der NZZ Mediengruppe ) scheint dieser Umstand jedoch genauso wenig wie die Tatsache, dass 74% der Österreicher die Neutralität bevorzugen, bewusst zu sein, als er in einer Parlamentssitzung vom 26. Februar völlig unverblümt postuliert, dass "die österreichische Neutralität obsolet ist. Sie ist vorbei." Dies liegt seiner Meinung nach daran, dass "Europa in dieser Welt nicht neutral ist". Durch solche Aussagen stellt Dengler EU-Interessen eindeutig vor die Interessen der österreichischen Bevölkerung, um es mal "positiv" zu formulieren. Eine andere Auslegung, und zwar dass er den Willen der Bevölkerung durch solche Initiativen absichtlich ignoriert, ist aber ebenso folgerichtig.
Wer meint, dass solch absurde Aussagen keinen Einfluss auf die österreichische Neutralität haben werden sollte sich bewusst machen, dass die NEOS Teil der Regierungskoalition sind und noch dazu laut Regierungsprogramm das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten innehaben werden.
Nicht vorhandene Neutralität versagt! Die Grundvoraussetzung für Neutralität ist Diplomatie. Diese war jedoch nicht nur abwesend, sie wurde aktiv unterbunden, wenn man die Aussagen der Politik Revue passieren lässt:
“NEOS zu Nehammer: Mit Kriegsverbrechern verhandelt man nicht”
Solche Aussagen sind im Falle Russlands nicht nur brandgefährlich, da Russland militärisch nicht bezwungen werden kann, ohne eine thermonukleare Apokalypse zu riskieren, sie sind auch heuchlerisch, da man Haftbefehle gegen Kriegsverbrecher nur bei offiziellen Feinden hysterisch hochhält. Für Haftbefehlen gegen unsere Partner gilt aber offensichtlich ein anderer Massstab, da diese entschieden als “nicht nachvollziehbar” denunziert werden und man sogar offen in den Raum stellt “Mittel und Wege [zu] finden, um Benjamin Netanyahu [trotz IstGH Haftbefehls] unbehelligt nach Deutschland einreisen zu lassen,” wie aus rezenten Äusserungen von CDU Vorsitzendem Friedrich Merz hervorgeht.
Diese Widersprüche ziehen sich auch durch das Regierungsprogramm. Einerseits gibt es ein “Bekenntnis zur österreichischen Neutralität im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben und zum multilateralen Engagement in UNO und OSZE”, andererseits wird das “Fortsetzen des Engagements bei Auslandseinsätzen, insbesondere bei Friedensmissionen, im Rahmen der [...] NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP),” proklamiert. Die NATO „Partnerschaft für den Frieden“ ist ein Orwellsches Instrument par excellence und soll von der Tatsache ablenken dass Österreich durch die Hintertür in ein militärisches Abenteuer geführt werden soll, welches einer NATO Anbindung gleichkommt.
Wie die Vorgängerregierung plant die ÖVP-SPÖ-NEOS Koalition massiv ins Bundesheer zu investieren. Man bekennt sich im Regierungsprogramm, den Aufbauplan des Militärs weit über das ursprüngliche Ziel hinaus, nämlich bis zum Jahr 2032, fortzusetzen. “Bis zu diesem Jahr sollen jährlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in das Heer fließen: Dieses Ziel soll im Landesverteidigungs-Finanzierungsgesetz festgeschrieben werden.”
Die Teilnahme am europäischen Luftabwehrsystem Sky-Shield, einer Ausbildungs- und Beschaffungsplattform mehrerer europäischer Staaten zum Kauf von Drohnen- und Raketenabwehr, wird ebenfalls bekräftigt und bleibt somit bestehen. Über diese Plattform will Österreich Lenkwaffensysteme mittlerer Reichweite (15 bis 50 Kilometer Reichweite) anschaffen. Darüber hinaus sollen auf alternativen bilateralen Wegen Langstreckenabwehrsysteme (mehr als 50 Kilometer Reichweite) gekauft werden. Außerdem bekennt sich die Koalition dazu, die Eurofighter-Nachbeschaffung einzuleiten und die militärischen Nachrichtendienste zu stärken, denen weitere Befugnisse wie etwa das Hacken im Ausland gewährt werden sollen.
Budget
Im Detail könnten sich aufgrund der angespannten budgetären Lage manche Beschaffungen als Konsequenz dem Bekenntnis zur Aufrüstung aber noch als Knackpunkt in der Koalition erweisen: Denn bisher sind milliardenschwere Vorhaben wie die Eurofighter-Nachfolge und die Langstrecken-Abwehrsysteme noch nicht im Aufbauplan budgetiert. Ebenso dürften die zahlreichen besoldungsrechtlichen Verbesserungen, die geplant sind, einiges kosten.
Vor diesem Hintergrund muss auch die Tatsache, dass dieses Jahr ein finanzielles “Maßnahmenpaket” im Umfang von 6,3 Milliarden, das nächstes Jahr sogar auf 8,7 Milliarden erweitert werden soll, hervorgehoben werden. Die Formulierung “Maßnahmenpaket” ist ein grotesker Euphemismus, denn es handelt sich um ein Sparpaket, dass in seinen wesentlichen Zügen denjenigen Massnahmen entspricht, die schon während der gescheiterten ÖVP-FPÖ Koalition mit der EU akkordiert wurden und dessen Konsequenz eine radikale Umverteilung nach oben ist.
Es ist besorgniserregend, mitanzusehen, für welche Anschaffungen Steuergelder ausgegeben werden, denn Rüstungsgüter sind Abfallprodukte. Der „Elefant im Zimmer“ ist jedoch die Tatsache, dass Ausgaben für Rüstung und "Verteidigung" im Widerspruch zur Neutralität stehen. Statt des ”Aufbauplans Bundesheer” sollte es einen Wiederaufbauplan der Diplomatie geben, der entsprechend budgetiert ist.