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Was verteidigt die NATO?

Kriegspropaganda und die Trümmer der europäischen Sicherheitsarchitektur

Als Bewohner von Österreich sind wir eingebettet und untrennbar mit Europa verbunden. Österreich hatte in der Nachkriegszeit aufgrund seiner Lage zwischen den Machtblöcken und seiner neutralen Position eine Sonderrolle, die von verantwortungsvollen Politikern auch genützt wurde. Die Neutralität befähigte Österreich in Konflikten vermittelnd tätig zu sein. Trotz dieses Neutralitätsstatus sind wir in diesem Krieg auf europäischem Boden heute nicht mehr neutral. Österreich unterstützt die Sanktionen und Kriegsmassnahmen gegen Russland, erlaubt Waffentransporte durch neutrales Territorium, stellt seine Luftüberwachung der NATO zur Verfügung und hat die Teilnahme an dem Luftverteidigungsprogramm Sky Shield beschlossen. Am auffälligsten in der Wahrnehmung eines Beobachters dieses Kriegs ist die Propaganda in unserer Politik und den subventionierten Medien. Was wir derzeit in der politmedialen Berichterstattung erleben, ist Russland als Aggressor unter Dauerbeschuss, dem sich ein „geeintes“ Europa klar und entschlossen entgegenstellen soll. Russland hatte als Bedrohungsbild Westeuropas lange Zeit Tradition, darauf konnte man aufbauen, was die Sache vereinfachte. Aus dieser entfachten Bedrohung resultiert nach westlicher Lesart die Befürwortung, ja Verherrlichung der aktuellen Kriegspolitik. Doch die Vorwürfe gegen Russland sind zu einem überwiegenden Teil unberechtigt, über weite Strecken handelt es sich um Propaganda und einseitige Interessensvertretung. Mit der Ausgrenzung und dem Krieg haben wir heute eine radikale Umkehrung des ursprünglich angestrebten Konzeptes einer europäischen Friedensunion, die Russland selbstverständlich mit einschloss. 1) Man war sich nach dem kalten Krieg über eine wirkliche Sicherheitspolitik einig, ganz abgesehen davon waren die Bevölkerungen Europas noch geprägt von der Katastrophe zweier Weltkriege. Für eine offensive Friedensdiplomatie stehen prominente Namen vergangener Politiker wie Kreisky, de Gaulle, Brandt, oder Gorbatschow und a.m. Heute jedoch scheint der Leitspruch „Nie wieder Krieg“ in seiner notwendigen Konsequenz auf politisches Handeln vergessen.

In der Phase nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bildete sich trotz vorhandener Zurückhaltung zu Russland eine Zuversicht und die reale Möglichkeit, die Visionen von Gorbatschow und Kohl nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa wahr werden zu lassen. Eine Architektur gemeinsamer Sicherheit, ein fragiles Gebilde von gegenseitigen Zugeständnissen und Vertrauensvorschüssen funktionierte anfangs und weckte grosse Hoffnung. Es gab viele Verhandlungen mit Verträgen zwischen den ehemaligen Gegnern, eine wichtige Rolle spielte das kontinentale Tandem von Deutschland und Frankreich, das derzeit abgelöst ist durch die eskalierende Kriegsachse Grossbritannien, Polen, Baltikum, Kiew. 2) Die ausgestreckten Hände in der Charta von Paris 1990, der KSE Vertrag 1991, Maastricht 1992 und die Vision einer politischen Union und einer kontinentalen Friedensordnung ,die bahnbrechenden Abrüstungsverträge wie ABM und INF, die OSZE, nicht viel davon ist übrig. 3) Wo liegen die Gründe für das Scheitern? Der Konflikt gründet auf konkrete Handlungen der Beteiligten, zuallererst die Ignoranz und die wiederholte Übertretung von Grenzen legitimer Sicherheitsinteressen Russlands nach dem Fall der Sowjetunion durch die USA und NATO. Russland reagierte mit vielfachen Protesten und entsprechenden politischen und militärischen Gegenmassnahmen, igelte sich stärker ein, während der US Einfluss durch mehrere Erweiterungsphasen der NATO in den Osten und entsprechende wirtschaftliche und politische Eingliederung der Staaten in den europäischen Raum zunahm. Bereits wenige Jahre nach der Zäsur von 89/90 hatte sich die EU in den Osten erweitert, ohne gezielt an einer Einigung zu dringenden sicherheitspolitischen Fragen zu arbeiten. Die Untätigkeit Europas auf dem Gebiet eines geeinten Vorgehens gab der US Aussenpolitik und nationalen Bestrebungen vor allem in Osteuropa die Möglichkeiten eine trennende Politik gegen Russland auszubauen, was den Boden für die NATO Beitritte ab 99 bereitete. 4) Zusätzlich gab es eine deutliche mediale Eskalation in den Medien Westeuropas, die um das Jahr 2007 begann. Man kann diesen Umschwung in der Behandlung Russlands ohne Übertreibung einen beginnenden Informationskrieg nennen, der bis heute anhält. 5)

Von der Historikerin Anne Morelli wurden die Kennzeichen der Kriegspropaganda definiert, sie entlarven die derzeitige Berichterstattung auch bei uns als das was sie ist. 6) Die grosse Macht der Berichterstattung liegt in der Möglichkeit, „politische Wahrheiten“ zu erschaffen, was gelingt. 7) Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung übernahm die Informationen und ging dem Meinungsmanagement auf den Leim. 8) Teilweise nehmen die Thesen absurde Ausmasse an, so etwa als die Mainstream Medien die Verantwortung des Anschlags auf die Nord Stream Pipeline im September 22 Russland zuschoben. Man war auch deswegen erfolgreich, weil westliche Medien ein globales Netzwerk und eine grosse Reichweite nutzen, im Gegensatz zu den Kanälen der Grossmacht Russland. 9) Neben dem Erfolg der Täuschung kann auch vorgegaukelt werden, dass die verhängte Sanktionspolitik von einer globalen Mehrheit mitgetragen wird, obwohl sie fast ausschliesslich von den USA und ihren engsten Verbündeten unterstützt wird. Neben der Unfähigkeit Europas, sich aussen- und sicherheitspolitisch zu konstituieren und eine wirksame Sicherheitspolitik mit Russland aufzubauen, war also die dauerhafte und nachhaltige Unterwanderung dieser Bestrebungen durch die US Aussenpolitik und ihrer Satelliten entscheidend für die weitere Entwicklung. Dabei waren die starken Netzwerke, die in Europa nach dem Weltkrieg im Sinne amerikanischer Einflussnahme aufgebaut wurden, die Medien, NGOs, die Think Tanks und Stiftungen von grossem Nutzen. Die identitätsstiftenden Resultate daraus führten zu einer weitgehenden Identifikation- und entsprechenden Gefolgschaft USamerikanischer Narrative. 10) Nicht zu vergessen ist der Einfluss des seit Bush J. noch erweiterten Propagandaapparat des Pentagon, laut AP- Recherchen handelt es sich um 27000 Personen, die ausschliesslich für Öffentlichkeitsarbeit zuständig sind und entsprechenden Druck auf Journalisten und Medien bei ihren Recherchen vor allem in Krisengebieten ausübten. 11)
 


Die NATO verhindert eine kontinentale Friedensordnung 


Bereits kurz nach der entscheidenden Zäsur von 89/ 90 wurden mehrere bedeutsame Schriften von US Strategen veröffentlicht, die zeigen, dass die USA keine gesamtkontinentale Sicherheitspolitik anstrebten bzw. unterstützten. Die massgebliche Aussenpolitik sah die USA als einzig verbliebene Weltmacht am „Ende der Geschichte“ und verfolgte das Ziel, diese Position auszunützen.12) Währenddessen hat der Verlierer Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands zugelassen, sondern auch sein Militär vollständig aus Ostdeutschland abgezogen. Der Warschauer Pakt wurde unmittelbar darauf aufgelöst. Als richtungsweisende Quellen amerikanischer Politikstrategie sind hier zu nennen: die unabsichtlich veröffentlichte Wolfowitz Doktrin und das Buch „ die einzige Weltmacht“von Zbigniew Brzezinski. 13) Darin werden als Mittel geopolitischer Vorherrschaft explizit politische, wirtschaftliche und militärische Interventionen gegen konkurrierende Staaten empfohlen. Das betrifft vor allem den Eurasischen Kontinent, Russland und China. Besonders gefährlich sieht man ein Bündnis zwischen Zentraleuropa und Russland. Dieses Denken greift auf die Heartland Theorie des Briten Halford J. Mackinder um 1900 zurueck. 14) Nach 1990 prägten die sogenannten Neocons stärker die Aussenpolitik der USA, nach 9/11 mit dem sogenannten Krieg gegen den Terror und einer Teilung der Welt in Gut und Böse. Das sollte sich in zahlreichen folgenschweren Interventionen im Nahen Osten niederschlagen. Ab der Jahrtausendwende beteiligte sich die NATO stärker an Kriegen im Ausland, beginnend in Jugoslawien ohne UN-Mandat, ohne Legitimation durch das Völkerrecht. Unter Bush Junior kam es 2002 zum Bruch des ABM Abrüstungsvertrags mit Russland. Begründet wurde er mit notwendigen Abwehrsystemen zum Schutz vor dem islamischen Terrorismus und dem Iran. Unterstützt durch eine unzureichend ausgestaltete europäische Sicherheitspolitik nahm der Einfluss der NATO nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in Osteuropa sprunghaft zu. Es gab zahlreiche Erweiterungswellen, obwohl man im Westen um den Widerstand Russlands gegen diese Verletzung seiner Sicherheitsinteressen wissen musste. 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn bei. 2004 Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien. Die Sorgen Russlands waren immer wieder artikuliert worden. Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die prophetischen Warnungen des US Strategen zur Containment Politik George Kennan vor der NATO Erweiterung in Richtung Russlands.15) Er warnte konkret vor einer Einflussnahme auf die Ukraine, weil sie unweigerlich zu einem Krieg führen würde. Mit den Regimechanges in Georgien und der Ukraine 2004 kam eine weitere subtile Form der US- Einflussnahme auf politische Verhältnisse in Osteuropa zum Einsatz. Dabei spielen Medien, NGOs und gezielte Stimulation zur Steuerung von Unruhen und Demonstrationen die entscheidende Rolle. Heute werden solche Farbenrevolutionen von PR Firmen geplant und unterstützt. Dabei wird auch vor Provokation und Gewalt nicht zurückgeschreckt, und man schafft ein Bild von „demokratischen“ Umbrüchen. 16) Als Folge des westlichen „Informationskriegs“ sowie der Einbindung Osteuropas in die EU und die Nato hat sich dort eine neue Form politischer Eliten gebildet, die ideologisch nicht mehr im geeinten Europa der ausgehenden 80er verankert sind, sondern im US dominierten Westen. 17) Das und die belastete Geschichte zur Sowjetunion beförderten die neue Spaltung zu Russland. Starke Kritik von Putin gab es 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, doch die Nato eskalierte mit der Ankündigung einer möglichen Mitgliedschaft für die Ukraine und Georgien in Bukarest 2008 noch weiter. Die Expansion der Nato und die US- Einflussnahme mit neuerlichem Staatsstreich in der Ukraine führten dann ab 2014 schliesslich zu dem Bürgerkrieg im Donbass, nachdem die Bewohner der Oblaste Donetsk und Luhansk die neue Regierung und die restriktive Politik gegenüber Russland und der russischen Minderheit sowie die einseitige Öffnung gegenüber dem Westen abgelehnt hatten. Das Vertragswerk Minsk 1 und 2 sollte den Bürgerkrieg durch einen Autonomiestatus der Gebiete beenden. Der Vertragsbruch wurde hierbei eindeutig durch die Ukraine begangen, Deutschland und Frankreich tolerierten ihn. Der Vorwurf, Russland habe Minsk gebrochen ist falsch, weil Russland keine Vertragspartei war, sondern nur Schutzmacht. 18) Am Beispiel der Rolle der NATO in der Ukraine und der gesamten Osterweiterung lässt sich ihr aggressives und konfrontatives Handeln feststellen. Bereits 2017 wurden erste Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. 2019 kündigte die USA unter Trump einseitig den INF Vertrag über die Reduzierung von Mittelstreckenraketen. Kurz darauf wurden US- Raketenbasen in Polen und Rumänien errichtet, angeblich zum Schutz vor dem Iran, und die Ukrainetruppen faktisch in die NATO integriert. 19) Am 17. Dezember 2021 hat Russland von der NATO und den USA eine schriftliche Zusage verlangt, dass aus Wahrung der Sicherheitsinteressen gegenüber Russland keine weiteren Länder mehr in die Nato geholt werden dürfen und dass die militärische Unterstützung und die Kooperation auch mit Nicht-NATO-Staaten an der Westgrenze Russlands beendet wird. Es gab bis heute keine schriftliche Antwort, und die geforderten Sicherheitsgarantien wurden mündlich abgelehnt. 20) Die Antwort Russlands war der Einmarsch der russischen Armee im Februar 22. In dem Strategiepapier „ Extending Russia“ des einflussreichen Think Thanks Rand Corporation von 2019 waren die heute gegen Russland vollzogenen Massnahmen allerdings schon grossteils vorweggenommen gewesen: Von der Sanktionierung von russischem Gas und Öl, der Boykottierung der Pipelines, militärischen und geopolitischen Schritten zur Destabilisierung der Länder in der Einflusszone Russlands zB. Syriens bis zu einer massiven militärischen Aufrüstung der Ukraine ist alles vorgezeichnet. Auch die für 2016 beschlossene Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen in Deutschland wurde durch eine Gesetzesgrundlage im April 21, und damit ein Jahr vor dem Krieg beschlossen, was für Russland nachvollziehbar ein zusätzlicher Affront war. 21) Deswegen ist es nicht falsch, dem US Imperium den Vorwurf zu machen, Russland in vielfacher Hinsicht in die Enge getrieben zu haben, diese Strategie war schliesslich nicht neu, sie war häufig verkündet und in vielen Ländern angewendet worden. 22) Man kann also neben der These eines nicht provozierten Angriffskrieges und einer expansiven Militärmacht Russland auch die These der NATO als reines Verteidigungsbündnis als Propagandanarrativ bezeichnen. 23)
Schon bei der Gründung der NATO kamen Erzählungen zur Anwendung, die allesamt die Notwendigkeit zu ihrer Errichtung mit der bestehenden Gefahr durch die kommunistische Sowjetunion begründeten.24) Eine damalige akute militärische Gefahr ist heute aus historischer Sicht allerdings nicht zu belegen. Das Land und die Infrastruktur waren schwer beschädigt, 27 Millionen Tote zu beklagen, die militärischen Mittel waren denen Westeuropas unterlegen. Man war mit der Konsolidierung des eigenen Landes beschäftigt. Bald nach dem Krieg entschlossen sich die Alliierten, die Sowjets nicht in das in Bretten Woods gegründete internationale Finanz- und Politsystem mit UNO, Weltbank und IWF einzubinden, der Kommunismus wurde verstärkt als Bedrohung einer westlich angeführten globalen Ordnung angesehen. Die Sowjetunion behielt nach dem Krieg ein 4,5 Millionen Heer als Vorbeugung gegen Interventionen aus dem Westen, was man heute als Grund Nummer zwei anführt. 25) Wie man heute weiss war das durchaus berechtigt, weil es mehrere konkrete Pläne von Angriffen und nuklearen Schlägen durch Grossbritannien und unter Truman gab. Auch das dritte Narrativ hält einer genauen Prüfung nicht stand: Die Trennung Deutschlands und der Eiserne Vorhang waren nicht das Ergebnis einer einseitigen Expansionspolitik durch die Russen.26) Sie war das Resultat anfänglicher von allen akzeptierten Verhandlungsergebnisse über die Zuteilung von Verwaltungszonen. Die Sowjets wurden zunehmend ausgegrenzt und von den Alliierten vor vollendete Tatsachen gestellt. Das zeigt sich auch im russischen Entgegenkommen und im Angebot nach der vollzogenen Teilung Deutschlands unter Stalin, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen. Bedingung war eine waffenfreie, bündnisfreie Zone. Auch nach dem Beitritt Westdeutschlands zur Nato 1955 versuchten die Sowjets nochmals Deutschland von der Wiederbewaffnung und der NATO Mitgliedschaft zu trennen. Unter Chruschtschow gab es den Vorschlag einer sowjetischen Mitgliedschaft und einer ausschliesslichen Zuschauerrolle der USA innerhalb des NATO Bündnisses. Heute kaum zu glauben. Die NATO Erweiterung ging in mehreren Beitrittsschritten voran, und so wie der Gründungsmythos keine stichhaltigen Begründungen für die Errichtung beinhaltet, so war auch die weitere Entwicklung nicht im Sinne der Wahrung gegenseitiger Sicherheitsinteressen der Staatengemeinschaft.
 


Europa ohne souveräner Aussenpolitik zwischen den Fronten


In dem Kampf um die Deutungshoheit werden uns also die wesentliche Vorgeschichte und die Gründe, die Russland zu dem militärischen Eingriff drängten, unterschlagen. Unter dem Teppich gekehrt wird auch der Zusammenhang zwischen der Ausgrenzung und Bestrafung Russlands und den Reaktionen darauf, so zB. eine strengere Behandlung ausländischer Organisationen und entsprechende Autokratisierung des Staates. Auch wenn Russland alles andere als eine „liberale Demokratie“ ist, wurden die Handlungen bzw. Straftaten des russischen Regimes seit Anfang des Jahrtausends medial hochstilisiert. Viele der erhobenen Vorwürfe halten in ihrem Ausmass einer genauen Prüfung nicht stand. 27) Nichtsdestotrotz waren sie wirksam im Erzeugen des Feindbildes. Gleichzeitig fanden in den USA und in Europa politische Prozesse statt, die auch zur Beschneidung von Demokratie und Meinungsfreiheiten führten. Der solidarische Sozialstaat wurde weiter beschnitten und die Umverteilung verstärkt, die neoliberale Politik fortgesetzt. Während man im Westen das autokratische System in Russland deutlich erkannte und brandmarkte, bewirkte die Ideologisierung und die Indoktrination der Öffentlichkeit in Europa eine Blindheit gegenüber dem eigenen Verfall. In den von uns als autoritär klassifizierten Staaten wie Russland unterstehen die Medien noch klar der Regierung, bei uns hat sich eine sublimere Zusammenarbeit zwischen Medienkonzernen und Regierungen entwickelt, mit einem besorgniserregenden Ergebnis, wie etwa dem Digital Service Act und medialen Kontroll- und Zensurinstanzen, alles mit dem Ziel, Debattenräume zu verhindern und die Deutungshoheit zu besitzen. 28) Die heute sprichwörtliche Arroganz westlicher Diplomatie und Politik gegenüber Länder des Nichtwestens führte zu einem Verlust an Ansehen und einer Isolation Europas in der Welt. Demgegenüber sind in der globalen Wirtschaft mit den BRICS und der SCO revolutionäre Entwicklungen im Gang, die an Europa vorbeilaufen. Wie immer man den Wert der europäischen Idee betrachten mag, und welches politische Konzept man befürwortet, in einem sind sich Befürworter und Kritiker einig, Europa befindet sich im Verfall. Während Anhänger eines politisch vereinigten Europa mit einer entsprechenden Verfassung und föderaler Struktur das Scheitern der Vision in der Umsetzung feststellen, sehen Verfechter einer national verankerten politischen Vertretung schon in dem supranationalen Konzept den Geburtsfehler. Sie sind der Überzeugung, dass die europäische Union nicht als Projekt zur Demokratisierung gegründet wurde. 29) Vor allem die Säule, die dauerhaften Frieden durch eine politische Ordnung Europas erreichen und erhalten sollte, ist unwirksam. Aber auch abseits davon stellt sich die EU heute als bürgerferne Institution dar, ein bürokratischer Apparat mit einem weitgehend machtlosen Parlament und einer Kommission welche die europäische Gesetzgebung an sich reisst. Europäische Verfassung und Sozialgesetzgebung sowie souveräne Sicherheitspolitik sind gescheitert.30 Die Anlehnung an die „regelbasierte Ordnung“ unter der Führung der USA lässt letztere nicht zu. Damit begeht man den Rechtsbruch des Grundsatzes: „Jeder Staat hat das Recht auf eigene Sicherheit- aber nicht auf Kosten der Sicherheit eines anderen Staates“OSZE- Istanbul 1999 Dieser Grundsatz wurde bei mehreren weiteren OSZE Treffen bekräftigt und unterzeichnet, und die fortgesetzte NATO Osterweiterung an die Grenzen Russlands war ein klarer Verstoss dagegen. 31) Heute sind Europäische Verteidigungspolitik und NATO quasi deckungsgleich 32) und haben unser Europa in eine ähnlich gefährliche Zeit wie zur Kuba Krise gebracht. Mit der Erlaubnis an die Ukraine, Marschflugkörper aus NATO Bestand auch auf russisches Territorium einsetzen zu können, hat Europa eine rote Linie Russlands überschritten. Die Antwort russischer Politiker darauf war klar. Bereits im Afghanistan Krieg kam die politische Forderung zur Sprache, die europäische Demokratie solle mit NATO- Unterstützung weit weg von Europa verteidigt werden. Diese Vorstellung einer einseitig westlichen Sicherheitsarchitektur anstelle eines universalen Völkerrechts gipfelt jetzt im Krieg gegen Russland auf dem Gebiet der Ukraine, einem Stellvertreterkrieg, bei dem die NATO eindeutig Kriegspartei ist und die Interessen der USA zum Nachteil Europas durchsetzt. 33) Oskar Lafontaine legt in seinem Bestseller: Ami, Ist Time to Go seine Kernthese dar, dass die Praktiken der US- Aussenpolitik in Verbindung mit der NATO inkompatibel mit der Schaffung einer stabilen europäischen Friedensordnung sind, und Europa eine Sicherheitsordnung ohne Beteiligung der USA braucht. Er sieht die NATO so wie viele andere kritische Beobachter als militärisches Mittel der USA. 34) Das militärische Ungleichgewicht zwischen den USA bzw. der NATO und Russland erfordert auch heute keine Erhöhung der Militärausgaben auf drei Prozent, wie gefordert, erklärt weder die Präsenz von zehntausenden US Truppen in Europa, noch die wiederholte Stationierung von Mittel/Langstreckenraketen und Nuklearwaffen. Bereits in den Verhandlungen zwischen Gorbatschow und Baker, Clinton und Jelzin wurde Russland versprochen, dass die NATO nicht nach Osten ausgedehnt wird. Die Dinge liegen klar auf der Hand, wenn uns der Frieden in Europa wichtig ist, müssen die Weichen gänzlich anders gestellt werden. Europa muss seine eigene Stärke und Verantwortung erkennen und sich ihr stellen. Dabei brauchen wir keine Führung durch unseren „transatlantischen Freund“.


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1) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 17- 35.
2) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 26, 57- 59. Oskar Lafontaine: Ami, Its Time To Go (erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Westend 2023),S.13-15. 3) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 24, 53-54. 4) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 37- 59. 5) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 94.
6) Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda (zu Klampen Verlag 2004) 7) Oskar Lafontaine: Ami, Its Time To Go (erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Westend 2023),S. 49. 8) Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? (Westend 2018), S. 32- 50. 9) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 96. 10) Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? (Westend 2018), S. 17- 18, S. 32- 50. 11) Daniele Ganser: Imperium USA, Die skrupellose Weltmacht (Westend 2023), S. 307.
12) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 39- 40. 13) Brzezinski Zbigniew: Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft (Fischer 1999) 14) Ulrike Guerot: Über Halford J. Mackinders Heartlandtheorie, Der geographische Drehpunkt der Geschichte (Westend 2024)
15) Oskar Lafontaine: Ami, Its Time To Go (erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Westend 2023), S. 43. 16) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S 86. 17) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S 77. 18) Andrea Drescher, Vortrag vom 16. 10. 24, Hall in Tirol: https://www.bitchute.com/video/V6MoN4UambL0/
19) Oskar Lafontaine: Ami, Its Time To Go (erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Westend 2023), S. 40. 20) Christian Müller: Darum fordert Russland den Stopp der NATO- Osterweiterung (infosperber 2022) 21) Gabriele Krone- Schmalz: Ich warne davor, eine Denunziationskultur zu etablieren (Westend, Rede vom 13. 12. 24 in Berlin im Theater Ost) 22) Oskar Lafontaine: Ami, Its Time To Go (erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Westend 2023), S. 20- 24, 44- 47. 23) Hermann Ploppa: History/ Die Daseinsberechtigung der NATO aus dem Geist falscher Narrative (apolut 28. 03. 2022)
24) Hermann Ploppa: History/ Die Daseinsberechtigung der NATO aus dem Geist falscher Narrative (apolut 28. 03. 2022) 25) Hermann Ploppa: History/ Die Daseinsberechtigung der NATO aus dem Geist falscher Narrative (apolut 28. 03. 2022) 26) Hermann Ploppa: History/ Die Daseinsberechtigung der NATO aus dem Geist falscher Narrative(apolut 28. 03. 2022)
27) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 98.
28) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 157. Gabriele Krone- Schmalz: Ich warne davor, eine Denunziationskultur zu etablieren (Westend, Rede vom 13. 12. 24 in Berlin im Theater Ost)
29) Maike Gosch: Interview mit Thomas Fazi: Ein europäischer Putsch? Die aktuelle Entwicklung der EU aus Sicht eines italienischen Linken (Nachdenkseiten, 24. September 2024) 30) Ulrike Guerot/ Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend 2022), S. 22- 25. 31) Christian Müller: Darum fordert Russland den Stopp der NATO- Osterweiterung (infosperber 2022) 32) Maike Gosch: Interview mit Thomas Fazi: Ein europäischer Putsch? Die aktuelle Entwicklung der EU aus Sicht eines italienischen Linken (Nachdenkseiten, 24. September 2024)
33) Oskar Lafontaine: Ami, Its Time To Go (erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Westend 2023), S. 44-47. 34) Oskar Lafontaine: Ami, Its Time To Go (erweiterte und aktualisierte Ausgabe, Westend 2023), S. 51, 57.