Nach langen Geburtswehen wurde am 15. Dezember 2023 in der „VIP Lounge“ des Wiener Hauptbahnhofs endlich die sogenannte „Machbarkeitsstudie“ für einen, so hieß es, „Wiener S-Bahn-Ring“ vorgestellt. Wobei, die Studie selbst bekam man bis heute (Jänner 2024) nicht zu Gesicht, und der Ring ist kein Ring, weil man an zwei Stellen (Praterkai und Hütteldorf) umsteigen muss. Es machte überdies fassungslos, wenn die vom Projekt schwärmenden vier Personen am Podium erklärten, dass man weitere neun Jahre brauchen werde, bis man – vielleicht – mit dem „Bau“ beginnen könnte, mit einer Fertigstellung irgendwann nahe dem Jahr 2040. Dies, obwohl eigentlich das gesamte benötigte Schienennetz für diese Mini-Variante bereits existiert.
Detailinhalte gab es bei der nur für Journalisten zugänglichen Pressekonferenz nur wenige, am ehesten noch von der ÖBB-Infrastruktur-Vorständin Judith Engel, während die drei anwesenden Politiker*innen, Verkehrs- und Planungsstadträtin Ulli Sima, SPÖ-Klubchef Josef Taucher und NEOS-Klubchefin Bettina Emmerling, im Wesentlichen Gemeinplätze von sich gaben, wie toll die Wiener Verkehrspolitik im Allgemeinen und das Resultat der Studie im Besonderen denn sei.
Eine unendliche Geschichte mit zwei Umsteigeknoten
Schauen wir uns im Detail an, was dort präsentiert wurde:
Eigentlich wurde eine Verlängerung der S45 (Vorortelinie) von der Station Handelskai über die Station Reichsbrücke (U1) bis zur Station Praterkai (S80) bereits 1993 in einem ÖBB-Konzept vorgeschlagen. 2003 war diese S45-Verlängerung entlang der Donau dann fixer Teil des Masterplans Verkehr der Stadt Wien und sollte bis 2007 realisiert werden. Über diese peinliche 30jährige Nicht-Realisierung, über dieses Versagen der Wiener Verkehrspolitik, wurde in der Pressekonferenz kein Wort verloren.
Als „neues“ Konzept empfiehlt nun die aktuelle Machbarkeitsstudie, dass man beim Praterkai keine Gleisbögen Richtung Simmering baut, sondern eine Umsteigestation. Ebenso würde man, von der Verbindungsbahn (Raum Speising, Unter St. Veit) nicht direkt zur S45-Vorortelinie Richtung Penzing, Ottakring, Hernals, Gersthof weiterfahren können (mit wertvoller Verknüpfung zur U4 bei der Station Unter St. Veit), sondern man sollte künftig nach Hütteldorf fahren und dort auf die S45 warten. Ein Doppel-Umsteige-“Ring“ also, mit Fertigstellung vielleicht in rund 15 Jahren. Vielleicht deshalb, weil Geldmittel ja noch keine beschlossen wurden.
Warum soll man zweimal umsteigen?
Der angebliche Zweck der beiden lästigen Umsteige-Notwendigkeiten wurde in den vier Statements nur nebulös angedeutet („Stärkung des Knotens Hütteldorf“), ebenso der Grund für die endlose Verzögerung (Ulli Sima betonte sinngemäß, dass es doch toll sei, wenn man sich jetzt schon über den Verkehr in den 2030er und 2040er Jahren Gedanken mache, manche Dinge würden halt einige Zeit brauchen).
Auf Nachfrage gab es dann nach der Pressekonferenz im persönlichen Gespräch Argumentationen, die grob mit den Zug-Intervallen im Außenbereich zu tun hatten. Wenn man beim Praterkai, sowie zwischen Unter St. Veit und Penzing einen echten Ringschluss mit durchgebundenen Zügen errichten würde, hätte dies – so hieß es sinngemäß – eine Ausdünnung der Verbindungen (S80 und S45) nach Hütteldorf sowie der S80 nach Aspern Nord zur Folge, weil dann zum Beispiel nur jeder zweite Zug dorthin fahren würde.
Beim Taktintervall für Hütteldorf wurde übrigens mit der hohen Pendlerdichte von Westen argumentiert, wobei sich rasch herauskristallisierte, dass man da primär an Auto-Pendler dachte, die in großer Zahl bis nach Wien hereinfahren. Denn jene Pendler, die von Wienerwaldgemeinden per Zug auf der „alten“ Westbahn einpendeln, könnten problemlos in Penzing statt Hütteldorf in den S-Bahn-Ring umsteigen. (Intercity-Züge fahren großteils durch den Lainzer Tunnel, für sie ist weder Hütteldorf, noch Penzing relevant.)
Bleiben die Ausgangsparameter der Studie geheim?
Nun wäre es natürlich interessant zu wissen, welche Vorgaben und Ausgangsparameter in der Machbarkeitsstudie verwendet wurden. Leider wurde die Studie selbst anscheinend bis heute (Ende Jänner 2024) noch immer nicht veröffentlicht, es gibt lediglich ein dürftiges, oberflächliches PDF der „ÖBB INFRA“ mit 15 Seiten, das am Titelblatt die Logos des „Österreichischen Instituts für Raumplanung“ (ÖIR) und der Firma VERRACON (offensichtlich die Ersteller der Studie) angibt.
Auf Seite 3 dieses PDFs wird ein einst von den NEOS präsentierter Vorschlag für einen „echten“ Ringschluss (ohne Umsteigezwang) gezeigt, der überdies (zusätzlich zu den Stationen Reichsbrücke und Donaustadtbrücke) die neuen Stationen Unterdöbling, Brigittenau (zwischen Heiligenstadt und Handelskai) und Unter St. Veit (Umsteigen zur U4) enthielt.
Seite 5 zeigt dann vier untersuchte Varianten, und deren Grundannahmen sind außerordentlich eigenartig und hinterfragenswert:
Variante 0.1 zeigt jene Version mit den Umsteige-Stationen Hütteldorf und Praterkai, die am Schluss als die „Beste“ bezeichnet wurde. Von Hütteldorf bis Handelskai fahren auf der S45 6 bis 8 Züge pro Stunde, überall sonst gäbe es nur 4 (und entlang der Donau zeitweise sogar nur 3) Züge pro Stunde.
Variante 1 entspricht in etwa dem einstigen NEOS-Vorschlag mit einem „echten“ Ring (4 Züge pro Stunde), einer zusätzlichen S45 von Hütteldorf bis Handelskai mit 4 Zügen pro Stunde (bringt mittels Überlagerung zwischen Penzing und Handelskai 8 Züge pro Stunde), und es gibt eine S80 von Hütteldorf nach Aspern Nord, die skurrilerweise nur im Halbstundentakt fahren würde. Zwischen Hietzinger Hauptstraße (Verbindungsbahn) und Haidestraße (11. Bezirk) gäbe es durch Überlagerung mit der S-Bahn-Ringlinie immerhin 6 Züge pro Stunde (also einen 10-Minuten-Takt), aber von Haidestraße bis Aspern Nord würden absurderweise nur mehr 2 Züge pro Stunde (!) fahren. (Eine zusätzliche Schnellbahnlinie vom Hauptbahnhof über Simmering und Gewerbepark Kagran nach Süßenbrunn wurde selbst für das Jahr 2040 in keiner der Varianten angenommen.) Diese Variante 1 würde die Donaustadt schauerlich benachteiligen.
Variante 2 nahm eine S-Bahn-Ringlinie an, die sechs Züge pro Stunde aufweist (also einen 10-Minuten-Takt). Hütteldorf wird hierbei sowohl von der Vorortelinie abgeschnitten (es gibt anscheinend keine S45 mehr!!!), als auch von der Verbindungsbahn (es gibt keinen Westast der S80 nach Hütteldorf). Zwischen Haidestraße im 11. Bezirk und Aspern Nord ist keine Schnellbahn mehr eingezeichnet, nur ein mittels einem großen X durchgestrichenes S80-Zeichen. Was sich das Österreichische Institut für Raumplanung, dessen Logo links unten prangt, bei dieser seltsamen Variante gedacht hat, erfahren wir nicht, weil die richtige ausführliche Studie wie erwähnt bisher nicht veröffentlicht wurde.
Variante 2.1 schließlich enthält ebenfalls eine Ringlinie mit sechs Zügen pro Stunde, dazu aber eine S45 von Hütteldorf bis Handelskai mit 2 Zügen pro Stunde. In Hütteldorf gibt es keine S80, sodass man von dort nur zweimal pro Stunde Richtung Vorortelinie fahren kann, aber keine Direktverbindung zur Verbindungsbahn oder in die Donaustadt vorfindet. Eine total seltsame Idee. In Aspern Nord findet sich immerhin nun wieder eine S80 mit 4 Zügen pro Stunde, die aber im 11. Bezirk, bei der Station Haidestraße, irgendwie „versandet“, sprich, endet. Einfach so, alles Aussteigen, man muss dann umsteigen in die Ringlinie, was die Attraktivität dieser S80 massiv mindern würde.
Was fehlt in der merkwürdigen Studie?
Ich hörte von verschiedenen Seiten, dass es so wirkt, als habe man neben der „Zweimal-Umsteigen-Variante“, die letztlich empfohlen wurde, drei möglichst unattraktive Varianten ausgesucht: Varianten mit Halbstundentakt nach Aspern Nord (Seestadt) oder sogar mit Abschneiden von Hütteldorf, und schließlich eine Variante, bei der die S80 aus der Donaustadt plötzlich im 11. Bezirk unvermittelt endet.
Warum fehlt zum Beispiel eine Variante mit einem S-Bahn-Ring mit 4 Zügen pro Stunde, plus einer S45 Hütteldorf-Handelskai mit 4 Zügen pro Stunde und einer S80 mit 4 Zügen pro Stunde? Damit hätte man in weiten Bereichen einen 7,5-Minuten-Takt und in der Donaustadt einen Viertelstundentakt. Von Hütteldorf hätte man stündlich vier Züge der S45 und vier Züge der S80. Warum wurde diese Variante nicht untersucht?
Da wir die eigentliche Studien nicht kennen, können wir nur mutmaßen:
Der Hauptbahnhof, der gegenüber den ursprünglichen Plänen der 1990er Jahre letztendlich geschrumpft wurde, um mehr lukrative Hochhäuser unterzubringen (ursprünglich sollte es ein Nahverkehrsgeschoß und ein Fernverkehrsgeschoß geben), wird möglicherweise bald an seine Kapazitätsgrenze stoßen, was einen 7,5-Minuten-Takt inmitten der anderen verdichteten Nah- und Fernverkehrstakte vielleicht schwierig macht. Wobei ich das nicht verifizieren kann. War es das?
Oder wollte man die billigste Variante durchbringen, bei der bis auf eher geringe Umbauten entlang der Donau fast keine Baumaßnahmen notwendig sind?
Wie wird argumentiert?
Seite 7 des PDF vergleicht die vier erwähnten Varianten und sagt, dass die favorisierte Variante 0.1 den geringsten Anstieg an Betriebskosten verursacht. - Na ja, ist klar, es gibt ja auch kaum Taktverbesserungen gegenüber der Variante 0. Wobei nicht definiert wird, was Variante 0 eigentlich ist. Ist es der Zustand von 2023 (2 Züge der S80 pro Stunde), oder ist es der Zustand nach Hochlegung der Verbindungsbahn mit 15-Minuten-Takt auf der S80 (etwa 2030)? Auch hier zeigt sich, wie nebulös die Aussagen des PDF von ÖBB INFRA, ÖIR und VERRACON im PDF sind.
Seite 8 im PDF prognostiziert für die favorisierte Variante (zweimal Umsteigen) einen geringen Fahrgastzuwachs. Die Varianten mit dem Abschneiden von Hütteldorf, sowie dem Stilllegen der S80 in der Donaustadt oder dem Ausdünnen dieser Linie auf Halbstundentakt ergeben eine deutliche Abnahme der kumulierten Fahrgastzahlen auf den genannten Strecken. Na ja, wenn man die Verbindungen nach Hütteldorf bzw. Aspern Nord verschlechtert oder de facto stilllegt, ist das eine logische Folge.
Auch Seite 13 zeigt mit roten Knödeln in einer anders gestalteten Grafik, dass das Absenken der Taktfrequenz in Hütteldorf einerseits und in der Donaustadt andererseits auf nur mehr zwei Züge pro Stunde sehr starke Fahrgastverluste bewirkt. Für diese Erkenntnis hätte ich keine monatelang ausgearbeitete Studie gebraucht, das hätte ich in zwei Sekunden gewusst.
Bauverzögerung und „verständliche starke Linien“
Die Seite 14 („Conclusio“) deutet erstmals an, warum man wohl erst nach 2032 mit dem „Bau“ beginnen will. Es seien, wird gesagt, allfällige Infrastrukturmaßnahmen im derzeitigen, erst kürzlich veröffentlichten „Rahmenplan“ des Klimaministeriums nicht enthalten.
Schließlich wird als abschließendes Motto verkündet: „Strategischer Ansatz: Starke und verständliche Linien und starke Knoten!“ Inwieweit die beiden Umsteige-Stationen die Linienführung „verständlicher“ und „stärker“ machen, blieb nach der Pressekonferenz leider unklar. Vielleicht steht es ja in der noch unter Verschluss befindlichen Studie.
Insgesamt war die Pressekonferenz jedenfalls ernüchternd. Wenn man als Politiker*in ständig „Wien ist Klimamusterstadt“ ruft, aber gleichzeitig grobe Fehlentscheidungen trifft, wird das unsere Stadt in eine bedrohliche Sackgasse führen.