Die Wahl in Frankreich war eine große Überraschung? Für wen eigentlich?
Für die Journalisten offenbar. Sie haben sich einige Wochen lang in eine regelrechte Hysterie hineingesteigert. Es ist ihnen, wie es scheint, gelungen, einen Teil davon auf einen größeren Kreis politisch Interessierter zu übertragen.
Bleiben wir nüchtern!
Die französischen Wahlen folgten exakt dem Muster, das wir dort seit mehreren Jahrzehnten kennen. Dieses Muster hat sich diesmal vielleicht noch stärker als bisher ausgeprägt. Seine Bedeutung hat sich allerdings geändert. Deswegen gibt es ein oder auch mehrere „aber“. Wir werden darauf zurückkommen. Dieses Muster sprang diesmal parteipolitisch im zweiten Wahlgang besonders in die Augen: Es hieß klar und eindeutig: Alle gegen den FN / RN.
Sehen wir uns einmal die Fakten an. Ich beziehe mich auf Daten, welche France Info ins Netz gestellt hat (www.francetvinfo.fr/elections/resultats/). Da es noch früh am Montagmorgen ist, können sie sich in unwesentlichen Details verändern.
Wer hat gewonnen? (In Klammern: bisherige Mandatszahl)
Nouveau Front populaire, 31.9% der Sitze 180 Mandate
LFI (Melenchon) 73 (75) -2
PS 62 (31) +31
ELV (Grüne) 35 (21) +14
PCF 10
Divers gauche 2.5% 14 Mandate
Majorité présidentielle (Macronisten) 26.9% 155 Mandate
Renaissance 98 (169) -71
MoDEm 33 (50) -17
Horizons 25 (31) -6
Divers centre 7 Mandate 1.3%
Les Républicains 11.3% 65 Mandate
RN (Le Pen / Bardella) 24.7% 143 Mandate
Divers 1.8% 10 Mandate
Im Grund ist jeder Kommentar überflüssig.
Ein zweiter Blick auf Daten über den Stimm-Übertrag zwischen den beiden Wahlgängen ist dafür vielleicht die beste Aussage:
Es war Melenchon, welcher als Erster den Rückzug der Drittplacierten bzw. bei Dreier-Konstellationen der jeweiligen Kandidaten gegen den RN vorgeschlagen hat. Die Macronisten haben bei diesem Schulterschluss sogar gezögert. Der Präsident selbst musste ihnen die Wadeln nach vorne richten. Das Ergebnis war:
Von der Linken her hat der Stimm-Übertrag tadellos funktioniert. 72 % der Wähler von LFI haben den Macronisten die Stimme gegeben. Gar nicht gut ging es umgekehrt, im Gegenteil: Stand ein Linker zur Wahl, haben die Ensemble-Wähler den Stimm-Übertrag lediglich zu etwas über 40 % vollzogen. Kann man die schiefe Situation besser abbilden?
Ich habe letzthin geschrieben: Macron hat sich keineswegs verrechnet. Ich kann dies nur wiederholen. Nur in einem muss ich den damaligen Artikel leicht korrigieren: Ich habe Zweifel an seiner weiterblickenden politischen Intelligenz geäußert. Das muss ich in aller Form zurück nehmen. Im Gegensatz zu seiner politischen Hilfstruppe hat Macron begriffen: Es kommt nicht auf die Partei an. Für ihn geht es um das bürokratisch-kapitalistische System. Das aber glaubt er bei den Sozialdemokraten besser aufgehoben als bei den Rechtspopulisten. Für ihn war diese Einsicht leichter als für seine Unterläufel. Er war Bürokrat und kommt nicht aus einer Partei, wenn er auch den Sozialisten nahesteht, Er hat denn auch die Konsequenzen klar gezogen, und zwar, wie man liest, schon vor einiger Zeit. Der erste Schritt dieses Manövers war ein voller Erfolg. Die Linke, man muss geradezu sagen: die angebliche Linke, ist voll auf sein Manöver eingestiegen.
Warum dann die Hysterie der letzten Zeit und insbesondere der abgelaufenen Woche? Es ist verständlich, dass es bei den Macronisten Heulen und Zähneknirschen gab. Ein Gutteil von ihnen hat den Platz an der Sonne und an den Trögen verloren. Für sie ging es um sie selbst. Doch der Mohr hat seine Schuldigkeit getan; der Mohr kann gehen. Für Macron geht es um wesentlich mehr, zumal sein eigener Posten sowieso nicht zur Disposition stand. Dass die Journaille hier mit den vom Verlust ihrer Mandate bedrohten Wasserträgern mitging, ist ziemlich klar. Das gehört nicht nur zum Geschäft, das entspricht auch der sprichwörtlichen Beschränktheit eines Großteils dieser Berufsgruppe.
Aber diesmal ist doch etwas mehr dabei. Die „Multikrise“ des Westens (© NZZ, 7. Juli 2024) wurde hier wieder einmal und für Viele schlaglichtartig deutlich. Macron hat sie politisch bisher nicht so schlecht bewältigt. Allerdings war dies erst der erste Schritt. Das Manöver muss weitergehen und wird weitergehen. Macron ist es trotz allem nicht gelungen, eine verlässliche Mehrheit zu bekommen. Oder vielleicht doch? Zählt man die Macronisten im engeren Sinn und die Grünen sowie den PS zusammen, fügt noch die Republicains hinzu, hätten sie deutlich mehr als die Hälfte der Abgeordneten im Parlament. Aber da kommen die bisherigen mehr persönlichen als politischen Zwistigkeiten ins Spiel. So gut Macrons Manöver gelungen ist, so unsicher geht es weiter.
Und die RS, die populistische Rechte? Die Strategie Le Pen / Bardella ist – im Gegensatz zu Meloni – vorderhand auch gescheitert. Damit stellt sich die Frage: Welche Konsequenzen wird diese Strömung aus ihrer absehbaren Niederlage ziehen?
Die Linke steigt beschädigt aus. Es macht es nicht besser, dass auch unter ihnen die meisten glauben, sie hätten die Wahlen gewonnen. Für die (ehemalige) Linke stellt sich einmal mehr die Frage: Kommt sie aus dem Gefängnis des „republikanischen Denkens“ heraus? Als der alte Le Pen, ein offener Faschist und Vichy-Nostalgiker, die Partei noch führte, war dies verständlich, aber gleichzeitig unnötig. Denn der kam auch nie nur in die Nähe der politischen Macht. Jetzt aber spielen die hegemonialen Kräfte auf dem Klavier der Erinnerung daran. Damit machen sie vergessen, dass sie selbst die neuen Autoritären sind. Nichts belegt dies besser als Macons Politik. Wird die Linke endlich begreifen, dass diese Sorte von „Antifaschismus“ gegen die Rechtspopulisten eine Falle der hegemonialen Schichten ist? Ich glaube es nicht.